Kapitel 20; Manuel

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Patrick ruft mir hinterher, aber ich sprinte unbeirrt die Treppen runter. Ich will nicht hören, wie enttäuscht er von mir ist, also renn ich weiter. Erst als die Bushaltestelle in Sicht kommt verlangsame ich meine Schritte und bleibe schließlich stehen. Kurz überlege ich einfach weiterzurennen, aber da legt sich Palles Hand auf meine Schulter und alle Fluchtpläne verschwinden. Seine Hand fühlt sich schwer an und sein Griff um meine Schulter ist ziemlich stark. Ich starre stur geradeaus. Die Wolken verdecken mittlerweile den Himmel, aber es sieht nicht nach Regen aus. Schade, das hätte gut zu meiner Laune gepasst.

„Wieso“, er schnappt nach Luft, „rennst du vor mir weg?“ Weil ich weiß was du sagen wirst und das schlimmste ist, dass du es wieder so fucking verständnisvoll sagen wirst. Ich schweige. Palle seufzt und dann schweigen wir beide, bis der Bus kommt. Da es so spät ist, sitzen wenige Menschen im Bus. Vier Fahrgäste befinden sich auf den Sitzen. Eine junge Frau sitzt hinten in der letzten Reihe lässig am Fenster und wippt ihren Kopf im Takt der Musik, die sie durch ihre Kopfhörer hört. Ein Pärchen sitzt auf einem zweier Sitz und das Mädchen hat ihren Kopf auf der Schulter des Jungen gebettet und hat ihre Augen friedlich geschlossen, während der Junge seinen Kopf an ihren lehnt und gedankenverloren aus dem Fenster sieht. Ein älter Herr sitzt ganz vorne und murmelt irgendetwas vor sich hin, als ich an ihm vorbei gehe, rümpfe ich meine Nase. Seine Fahne ist unerträglich. Ich setze mich an den Fensterplatz der sich vor der zweiten Tür befindet. Palle steht neben mir, zögert kurz und setzt sich dann neben mich. Er sagt nichts, aber ich spüre wie sein Blick auf mir liegt und kann einfach keine Ruhe finden. Demonstrativ sehe ich aus dem Fenster und da es draußen dunkel ist, sehe ich ein Spiegelung von mir auf der Glasscheibe, allerdings konzentriere ich mich auf die Gebäude mit den leuchtenden Reklamen an denen wir vorbei fahren. Der Bus kommt zum Stehen und ich richte meinen Blick nach vorne. Auf dem Monitor der die Haltestellen anzeigt, blinkt die unterste rot. Hankastraße. Es dauert also noch, bis wir bei der Station vor unser Wohnung sind. Der alte Mann steht wankend auf und geht durch die Doppeltür, die sich in diesem Moment zischend öffnet. Die kühle Luft von draußen flutet kurz in den Bus hinein, ehe die Türen geschlossenen werden und er ruckelnd weiterfährt.

„Du hast dich echt unmöglich verhalten“, Palles Stimme klingt enttäuscht und ich schaue zu Boden. „Was sollte das bitte? Ich dachte du willst Maurice eine Chance geben, auch ohne-“, er stoppt kurz. Auch ohne Gedankenlesen wollte er sagen, aber das konnte er hier schlecht laut aussprechen. „Die Sache mit deiner Brille“, umschreibt er es stattdessen und fast hätte ich gelacht. Die Sache mit deiner Brille. Das klingt einfach weird, aber eigentlich ist es das ja auch. All diese Gegenstände sind weird und dann repräsentieren sie auch noch die Todsünden. Das kann doch nichts Gutes verheißen. Irgendeinen Haken müssen die Gegenstände haben, aber mir fällt keiner ein. Gedankenlesen zu können, macht das Leben so viel einfacher. Man weiß sofort wer wahre Freunde sind und man kann so ziemlich alles in Erfahrung bringen was man möchte. Alles was ich tun muss, ist es das erwünschte Thema anzusprechen und selbst wenn die Person verbal abblockt, verraten mir die Gedanken letztlich doch alles. Der einzige Nachteil ist bis jetzt, dass ich Michaels permanente Gedanken nicht ausblenden kann. „Aber stattdessen willst du ihn nur dazu bringen seine Uhr auszuziehen. Und red' dich nicht raus. Ich weiß ganz genau warum du das wolltest. Du hast dich echt arschig verhalten, Manuel“, und damit reißt Palle mich aus meinen Gedanken. Manuel. Shit. Wenn er nicht meinen Spitznamen benutzt, wird es ernst.

„Ich habe mich arschig verhalten? Du hast gut reden, wenn du wüsstest was Michael alles-“, ich breche ab. Ich kann im Bus ja schlecht sagen, dass Michaels Gedanken einfach nur scheiße sind, oder? „Hinter meinem Rücken über mich sagt“, finde ich schnell eine Formulierung und bin relativ zufrieden damit. „Er ist einfach so scheiße herablassend und Gott kotzt seine Art mich an! Er wollte uns von Anfang an nicht in seiner kack Wohnung haben und ich wollte auch nie in seiner scheiß Luxuswohnung sein!“ ich war etwas lauter geworden. Das Mädchen, das auf der Schulter ihres Freundes schläft schreckt auf. Ihr Freund wirft mir einen wütenden Blick zu den ich gekonnt ignoriere, genau wie die unfreundlichen Gedanken von ihm. Luxuswohnug. Wie konnte Michael sich diese gigantische Wohnung in diesem teuren Viertel leisten? Ich mein klar, er hat ein magisches Portemonnaie, aber selbst damit konnte man sich nicht so eine Wohnung leisten. Ich will das auch verdammt. Wieso kommt dieser Arsch aus einer reichen Familie und findet dann dieses kack Portemonnaie? Ich hätte es finden sollen! Dann müsste ich mir keine Sorgen machen, weder um die Finanzierung der Wohnung noch um das Studium. Ich müsste dann nicht mal jobben gehen! Aber nein. Das Portemonnaie gehört der Person, die eh schon alles hat. Die Wohnung der beiden hat ein so verflucht starkes Neidgefühl in mir ausgelöst. Das Wohnzimmer war ziemlich groß, verdammt groß und auch so Licht durchflutet durch die vielen Fenster, wenn ich mich nicht irre sogar durch eine Balkontür. Das graue, große Sofa, das gegenüber vom Fernseher steht, war so weich und gemütlich gewesen. Die Regale aus hellem Holz geben der Wohnung eine freundlich wirkende Atmosphäre. Vereinzelt stehen ein paar grüne Pflanzen auf den Regalen. Das Fernsehregal beinhalte eine beachtliche Filmsamlung und das große Bücherregal wurde mit Pflanzen und kleinen grauen geometrischen Figuren geziert. Bilder hingen in schönen Rahmen an den Wänden. Vermutlich sind die Familien der beiden darauf abgebildet. Große Deckenbeleuchtung, die man verstellen kann, im Wohnzimmer, die den Raum in ein angenehmes Licht tauchen und kleinere Lampen im Flur. Eine Leinwand mit einer schönen Landschaft hing im Flur. Das war auch das letzte was ich wahrgenommen habe, als ich die Wohnung verließ. Scheiß Luxuswohnung und ich habe nur den scheiß Flur und das Wohnzimmer gesehen. Ich will gar nicht erst wissen wie der Rest aussieht, aber darum muss ich mir keine Sorgen machen. Nie im Leben würde ich dahin zurückgehen. Ich kann die beiden eh nicht leiden.

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