Kapitel 95; Michael

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Vorsichtig lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und führe Gonzo die Einfahrt runter. Der kleine Mops trippelt zufrieden vor mir her und ich muss lächeln. Ich hab den kleinen Fratz echt vermisst. So sehr, dass ich knapp zwei Stunden nach meiner Ankunft zuhause schon mit ihm Gassi gehe. Vielleicht ist das aber auch nur meine Flucht vor den Fragen meiner Eltern. Insbesondere, wenn diese Fragen sich auf Maurice beziehen. Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll. Ich kann nicht so tun, als ob alles in Ordnung wäre, aber genau das wird von mir verlangt. Ich muss meine Eltern anlügen und darin war ich schon immer ziemlich schlecht, aber eine andere Wahl hab ich auch nicht. Maurice' Zustand war die ganze Zeit schon eine Belastung, aber das hab ich ausgehalten, weil niemand da war, dem ich was hätte vorspielen müssen, zumindest nie lange. Und jetzt sitze ich zuhause, bin ständig von meinen Eltern umgeben und muss so tun, als ginge es Maurice und mir fucking gut, obwohl ich vor Stress am liebsten kotzen würde. Es macht mich fertig. Ich hab gedacht, wenn dieses scheiß Ritual vorbei ist, bekommen wir unser Leben wieder. Und was ist jetzt? Mein bester Freund, den ich verdammt nochmal liebe und der mich nur ausgenutzt hat, ist eine leblose Hülle, weil er zum zweiten Mal den schlimmsten Moment seines Lebens durchmachen musste und ich bin schuld dran. Gott, mir wäre diese verdammte Ungewissheit und Todesangst als wir Olivia nur als Zorn kannten und nicht wussten, dass sie und Maurice sich kennen, lieber als die Situation jetzt. Ich weiß wirklich nicht, ob ich die Weihnachtstage hier überstehe, aber für Maurice ist es vermutlich besser, wenn er zuhause ist. Auch wenn das bedeutet, dass ich meinen Eltern 'ne Theatervorstellung geben muss.

Ich lasse mir bei dem Spaziergang mit Gonzo verdammt viel Zeit. Als ich nach Hause komme, hat meine Mum schon das Abendessen fertig gemacht. Vor diesem Moment habe ich mich die ganze Zeit ziemlich gefürchtet, immerhin wäre das der perfekte Moment, um mich mit Fragen zu durchlöchern. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, mich in mein Zimmer zu verziehen, mit der Begründung, dass die Fahrt ziemlich anstrengend war und ich müde bin, doch als ich den Blick meiner Mutter sehe, weiß ich, dass ich das nicht machen kann. Sie hat mich vermisst, mein hat Vater mich vermisst und ich hab die beiden vermisst. Mich direkt am ersten Tag abzukapseln wäre einfach nur beschissen von mir. Also setze ich mich mit einem verdammt mulmigen Gefühl an den Esstisch und hoffe, dass sie sich mit Fragen, die Maurice betreffen, zurückhalten. Im ersten Moment scheine ich wirklich Glück zu haben. Doch gerade, als ich anfange, mich zu entspannen und ich glaube, mit meinem Theater durchzukommen, betritt meine Mutter die Bühne.

„Wie läuft denn Operation Maurice bisher?“, mit einem vielsagenden Lächeln schaut sie mich an und hält mir damit ohne es zu wissen ein Messer an die Kehle. Mein Vater lässt die Gabel sinken und zieht fragend eine Augebraue hoch. Scheiße. Was soll ich denn jetzt sagen? Ich will sie nicht anlügen, die Wahrheit kann ich aber auch nicht erzählen. Was mach ich denn jetzt, verdammt. Ich muss irgendwas sagen, irgendwas sonst- „Michael? Ist alles in Ordnung? Geht's dir nicht gut?“

„Ähm“, ich räuspere mich kurz, versuche das widerliche Gefühl in meinem Hals loszuwerden. „Sorry. Mir ist nur ein bisschen schwindlig geworden. Die Fahrt war ziemlich anstrengend und ich hab wohl zu wenig getrunken.“ So schnell wie in diesem Moment hatte ich wohl noch nie ein Glas am Mund. Erstens stützt das meine ziemlich beschissene Ausrede, zweitens hält mich das vom Reden ab. Also trinke ich, bis das verdammte Wasserglas leer ist und sehe dann erst wieder in die mittlerweile besorgten Blicke meiner Eltern. „Ich glaub, ich geh heute mal früher schlafen als sonst“, kündige ich meinen Rückzug an und räume schnell meinen Platz leer, bevor ich fast schon fluchtartig in mein Zimmer will.

„Moment mal, Micha“, hält meine Mutter mich auf. Ich habe das Gefühl, dass mir mein Herz in die Füße rutscht, wie ein Betonklotz, der im See untergeht. Das war gerade verdammt verdächtig, natürlich bemerken sie dann, dass was nicht stimmt. Ich schließe meine Augen, atme tief ein, und als ich sie wieder öffne, hält meine Mutter mir eine Wasserflasche hin. „Nimm die mit, sonst dehydrierst du mir noch.“

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