Kapitel 79; Michael

228 30 61
                                    

Meine Sicht verschwimmt. Maurice' lebloser Körper liegt auf meinem Schoß, während ich verzweifelt versuche, irgendeine Reaktion von ihm zu bekommen. Doch nichts. Er bewegt sich nicht, atmet nicht einmal mehr. Das ist ganz bestimmt nicht das, was ich meinte, als ich sagte, er soll aus meinem Leben verschwinden. Das hier wollte ich ganz bestimmt nicht.

„Maurice, komm schon! Bitte!“, meine Stimme ist mittlerweile nicht mehr als ein gebrochenes Flüstern. „Tu mir das nicht an.“ Er rührt sich nicht. Ein weiterer Schwall Tränen verlässt meine Augen. Ich bekomme kaum noch Luft und habe das Gefühl, fast zu ersticken, aber darauf achte ich kaum. Mein einziger Wunsch ist, dass in den Körper vor mir endlich wieder Leben einkehrt.

Und als hätten die Sphären um uns herum meine Bitte gehört, verbinden sie sich zu einer großen Spähre, die über uns sachte auf und ab schwebt. Ich spüre eine Bewegung auf meinem Schoß und sofort schnellt mein Blick nach unten. Vergessen ist die Sphäre über uns. Habe ich mir das eingebildet? Nein. Nein, sein Brustkorb hebt und senkt sich. Er atmet. Maurice atmet! Erleichterung durchflutet mich. Er lebt. Ich lege meine Hand an seine Wange. Komm schon, mach die Augen auf. Sieh mich an, verdammt. Er versucht, etwas zu sagen, aber ich versteh ihn nicht. Das einzige, was seinen Mund verlässt, ist ein heiseres Krächzen.

„... rück. Zu-zurück“, er schlägt seine Augen auf. Orientierungslos wandert sein Blick zu mir und dann zu der Kugel über uns. Aber irgendwas stimmt hier nicht. Das sind nicht Maurice' Augen. Ich weiß nicht einmal, was genau mich so stört. Sie sehen aus, wie Maurice' Augen, aber irgenwie auch nicht. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass sich in den Grünton ein helles blau gemischt hat. Mehr noch, das Blau verdrängt das Grün langsam. Irgendwas passiert hier und ich weiß nicht, ob mir das gefällt.

„Rückgängig“, apathisch streckt er seinen Arm aus, als wolle er die Sphäre über uns ergreifen wollen. Sie schwebt ein Stück herunter und wenn ich meinen Arm jetzt ausstrecken würde, könnte ich sie erreichen. Ich sehe, wie Maurice die Zähne zusammenbeißt und sich noch mehr streckt. Sein Körper beginnt vor Anstrengung zu zittern. Ich drücke ihn wieder runter und greife jetzt selbst nach der Sphäre. Ich berühre sie nicht, aber trotzdem scheint es so, als würde ich sie anfassen, sie zumindest lenken. Meine Finger führen die Sphäre zu Maurice. Aus irgendeinem Grund will er sie unbedingt haben und ich hoffe, dass war jetzt kein riesiger Fehler. Das Licht des Orbs spiegelt sich in seinen Augen. Seine Fingerspitzen nähern sich zögerlich der Lichtkugel. Er stößt sie an und das ist der Moment, in dem ich denke, blind zu werden. Meine Augen beginnen zu brennen und ich schließe sie.

Als ich sie wieder öffnen kann, werde ich von Sonnenlicht geblendet. Ich liege auf dem Rücken und Maurice' Gewicht ist von meinen Beinen verschwunden. Sofort setze ich mich auf und fasse an meine Stirn. Mir ist schwindelig. Wo bin ich überhaupt und wo ist Maurice? Ich betrachte den Boden unter mir. Grauer Asphalt. Sitze ich etwa mitten auf einer Straße? Tatsächlich. Vorsichtig stehe ich auf. Scheiße, warum ist mir so schwummrig. Ich schließe meine Augen, bis ich ruhig stehen kann, dann sehe ich mich um. Vor mir ist eine Häuserreihe. Sieht wie ein ordentliches Wohnviertel aus. Mein Blick schweift nach rechts. Irgendwas liegt da.

Ich laufe los. Da liegt nicht etwas, sondern jemand. Nur wenige Meter neben mir liegt ein kleines Mädchen reglos auf dem Boden. Verdammt. Ich lasse mich vor sie fallen. Atmet sie? Scheiße, sie atmet! Zum Glück!

„Hey Kleine. Kleine?“, vorsichtig rüttle ich an ihrer Schulter. Komm schon, wach auf! Wieso liegt sie überhaupt hier? Wieso lag ich hier? Und wo ist hier überhaupt? Das Mädchen rührt sich. Sie kneift ihre Augen zusammen, dann setzt sie sich vorsichtig auf.

„Aua...“, so wie ich vorher, fasst sie sich an die Stirn. Dann hebt sie ihren Kopf an und mustert mich verwirrt. „Wer bist du?“, fragt sie. Erleichtert seufze ich. Sie atmet, sie bewegt sich, sie redet, also geht's ihr gut, nehme ich an.

Hast du eigentlich auch genug von mir? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt