Kapitel 46; Manuel

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Während der Autofahrt bin ich still und sehe aus dem Fenster. Maurice und Palle unterhalten sich angeregt über den Film und Michael versinkt wieder in seinen Gedanken. Er ist schon die ganze Zeit in seinen Gedanken versunken und irgendwann wurden seine lauten Gedanken viel spannender als der lame Film, der eine absolute Enttäuschung gewesen ist. So eine unrealistische Handlung hab ich noch nie gesehen, einfach nur zum Kotzen. Michaels Gedanken hingegen waren interessant. Die Art und Weise wie seine Gedanken immer wieder zu Maurice zurückkommen, fasziniert mich. Generell sind all seine Gedanken, die Maurice betreffen höchst interessant. Er wollte seine Hand ergreifen, hat es aber doch gelassen. Er will ihm nah sein. Maurice ist momentan einfach unangefochten das wichtigste für ihn und ich zweifel nicht eine Sekunde daran, dass er für Maurice all sein Reichtum aufgeben würde. Ich löse meinen Blick von dem nächtlichen Anblick der vorbeirauschenden Stadt und sehe stattdessen zu Michael, der vorne sitzt und aus dem Fenster sieht, aber seine Umgebung gar nicht richtig beachtet. Er ist wieder in Gedanken, beziehungsweise ist er es immer noch. Nur hin und wieder sieht er zu Maurice rüber, ganz flüchtig und kurz, aber trotzdem mit so viel Gefühl, sowohl im Blick als auch in seinen Gedanken, dass es mir den Atem nimmmt. Dabei würden mir diese Blicke nicht einmal auffallen, wenn ich hinter dem Beifahrersitz sitzen würde und ohne Brille könnte ich all seine Gedanken nicht hören und zum allerersten Mal fühle ich mich schlecht, weil ich sie hören kann. Ich sollte diese Gedanken und Gefühle nicht hören, aber zeitgleich wundere ich mich, dass ich der einzige bin der sie hören kann, denn sie schreien so laut, wirken plötzlich so offensichtlich, obwohl ich sie jetzt erst mitbekommen habe. Wie lange geht das jetzt schon so? Wie lange unterdrückt er seine Gefühle für Maurice schon, dass sie so verdammt stark sind?

Ich will was sagen, aber ich weiß nicht was. Irgendwie bin ich überwältigt von seinen Gefühlen und von meinen. Michael fragt sich wie andere ihre Gegenstände wahrnehmen? Bei mir ist es wie ein grünes Feuer, dass immer größer und größer wird, bis ich es nicht mehr zügeln kann. Ich muss es so oft unterdrücken, so oft kleinhalten und egal was ich tue es wird trotzdem da sein, ganz klein und leicht, aber trotzdem steigt es in mir auf, versprüht glühendheiße Funken in jede meiner Zellen, macht mich grün vor Neid, genau wie es meine Augen grüner gemacht hat. Und jetzt spüre ich wie das Feuer wieder auflodert, wie es Michael dafür verflucht diese starken Empfindungen zu haben und zum allerersten Mal versuche ich diesen grünen Hass auf Michael zu unterdrücken. Ich kann diesen Neid jetzt nicht empfinden. Nicht so. Michaels Gefühle sind so klar, völlig frei von irgendwelchen Hintergedanken und ich würde ihn niemals für seine Gefühle bezüglich Maurice verachten. Niemals. Ich verachte ihn aus anderen Gründen, aber ganz bestimmt nicht für seine Gefühle. Gefühle kann man nicht steuern, Gefühle sind manchmal willkürlich und unaufhaltbar, aber sie sind auch genau so schön wie zerstörerisch. Meine Gefühle sind auch ziemlich zerstörerisch. Ich werfe einen Blick zu Palle und frage mich, ob er wieder bei mir schlafen möchte. Palle will, dass ich mich mit Maurice und auch mit Michael vertrage und nach heute, nach diesen Gedanken, bin ich dazu bereit. Ich werde nicht unnötig Streit mit Michael suchen und vielleicht werde ich auch etwas netter zu ihm sein. Auf jeden Fall werde ich es versuchen.

Ich richte meinen Blick wieder auf das Fenster und stelle fest, dass wir bald da sind. Eine Ampel noch, dann bei der nächsten Kreuzung geradeaus und schon sind wir vor dem Gebäudekomplex, in dem unsere Wohnung liegt. Die Unterhaltung zwischen Maurice und Palle ebbt langsam ab und nach ein paar Minuten ist sie ganz verstummt. Wir verabschieden uns von den beiden.

„Das war echt nett von Michael“, sagt Palle, als er dem Auto hinterher sieht, dass langsam im Getümmel des Straßenverkehrs verschwindet.

„Ja, das war es wirklich“, stimme ich Palle zu, der gespielt schockiert Luft einzieht. Verwirrt sehe ich zu ihm. „Was?“

„Du hast gerade indirekt gesagt, dass Michael etwas nettes getan hat“, erläutert Palle und ich verdrehe die Augen.

„Ich habe es nicht nur indirekt, sondern ziemlich direkt gesagt, aber wenn es dir nicht sofort klar war, sag ich es noch einmal: Das war wirklich nett von Michael“, sage ich und gehe jetzt auf den Gebäudekomplex zu. Palle schließt schnell zu mir auf.

„Es ist nur so erstaunlich, weißt du? Du hasst ihn doch“, flüstert Palle, fast so als würde er befürchten, das wenn er es zu laut sagt ich mich daran erinnere Michael zu hassen und es zurücknehme. Ich schnaube genervt.

„Ich hasse ihn auch“, stelle ich klar. „Aber ich habe mich dazu entschieden ihn etwas weniger zu hassen.“

„Warum?“

„Weil-“, ich breche ab. Soll ich ihm sagen woher mein Umschwung kommt? Nein. Das würde sich falsch anfühlen. Es sind Michaels Gedanken und eigentlich dürfte nicht mal ich sie wissen. Zugegeben, das hat mich vorher auch nicht sonderlich interessiert, aber bei seinen letzten Gedanken ist es was anderes. Die gehören nur ihm und vielleicht irgendwann mal Maurice, wenn Michael den Mut aufbringt und ihm seine Gefühle gesteht. Das ist ein großer Schritt. Könnte ich rein fiktiv alles auf eine Karte setzten und riskieren meinen besten Freund und zeitgleich noch Mitbewohner zu verlieren? Ich sehe zu Palle und nein das könnte ich nicht. Niemals. Die Angst ihn zu verlieren wäre mir viel zu groß. „Du möchtest doch, dass ich mich besser mit ihm vertrage, also hinterfrag mich jetzt nicht so.“

„Du hast gezögert.“

„Ja, und?“, genervt richte ich meinen Blick auf das Schloss und krame in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel.

„Das heißt du lügst.“

Ist das sein Ernst? Ich verdrehe die Augen, während ich zeitgleich den Schlüssel im Schloss drehe und so die Tür öffne. Ich gehe die Treppe etwas zügiger hoch als sonst und ignoriere Palles neugierigen Blick, der auf mir liegt. Egal wie sehr er quengelt, ich werde ihm nicht sagen warum ich meine Meinung wirklich verändert oder zumindest abgeändert habe. Niemals. Michaels Geheimnis ist bei mir sicher. Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Ich werde wohl bald ein ernstes Gespräch mit ihm führen.

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