Kapitel 61; Michael

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Ich hocke auf dem Fußboden in meinem Zimmer und versuche, den Zwischenboden der Schublade meines Nachttischs wieder an seinen ursprünglichen Platz zu befestigen. Es macht mich so unfassbar wütend, dass das Amulett fehlt. Hätte ich gewusst, dass Maurice- Das Amulett wäre bei Manu und Patrick wohl doch besser aufgehoben gewesen. Naja. Zumindest bei Manu. Bei Patrick bin ich mir immer noch nicht so sicher, dass er's nicht doch benutzt hätte. Wobei das eh keinen wirklichen Unterschied gemacht hätte, Zorn wusste ja sowieso, dass wir die Gegenstände hatten.

„Ah, fuck!“, zische ich und schüttle meine Hand leicht. Beim Versuch, den Zwischenboden an seinen Platz zu drücken, habe ich mir den Finger eingeklemmt. Scheiße, tut das weh! Immerhin ist er jetzt da, wo er sein soll und ich kann die Schublade wieder in die Fassung des Nachttischs schieben.

Durch die geöffnete Tür höre ich das leicht kratzende Geräusch des Besens, während Patrick die Scherben und die Erde im Flur aufkehrt. Ich kann froh sein, dass die beiden mir helfen. Alleine hätte ich wohl ewig gebraucht, um den ganzen Mist aufzuräumen, wenn ich überhaupt damit angefangen hätte. Wahrscheinlich eher nicht. Ich stehe auf und sehe mich in meinem Zimmer um. Den Großteil der Unordnung hier habe ich beseitigt. Vielleicht kann ich Manu helfen. Oder Patrick. Oder ich gehe in einen Raum, um den sich bisher noch niemand gekümmert hat.

Als ich mein Zimmer verlasse, sehe ich gerade so noch, wie Patrick samt fast schon überquellendem Kehrblech in der Küche verschwindet. Wo Manu ist, weiß ich gar nicht. Die Tür zu Maurice' Zimmer ist geschlossen und ehrlich gesagt bin ich ziemlich froh darüber. Bevor ich auf falsche Gedanken komme, laufe ich schnell an der Tür vorbei, in Richtung Wohnzimmer.

Auf dem Weg dorthin fällt mir aber etwas anderes ins Auge und ich stoppe. Mehrere umgedrehte Bilderrahmen liegen auf einer der Kommoden im Flur. Patrick hat sie also nur abgehangen und nicht weggeworfen. Bevor ich es richtig realisiert habe, habe ich schon den obersten Bilderrahmen in der Hand. Mit zittrigen Händen drehe ich ihn um und betrachte das Bild.

Maurice und ich, lachend nebeneinander stehend, im Hintergrund der Elizabeth Tower. Das Bild ist während der Abschlussfahrt nach London entstanden, im letzten Jahr unseres Abiturs. Obwohl Maurice genervt war, dass die Lehrer uns gerade an den ersten Tagen überall hingezerrt haben, war er an dem Tag ziemlich aufgedreht. Ich weiß nicht, warum ausgerechnet dieser verdammte Turm es ihm so angetan hat, aber seine gute Laune war echt ansteckend. Ich kann mich jetzt noch ziemlich gut an seine glänzenden Augen erinnern, als er mich näher zum Turm geschleift hat.

Lächelnd greife ich nach dem nächsten Bilderrahmen. Wieder sind Maurice und ich darauf abgebildet, dieses Mal im Garten zuhause. Meine Mutter hat das Bild gemacht und sie war ziemlich stolz darauf, wie gut es hinterher aussah. Mist. Was soll ich meinen Eltern sagen? Maurice gehörte zur Familie. Meine Mum hat ihn als zweiten Sohn wahrgenommen. Sie sind sogar relativ gut mit Maurice' Eltern befreundet. Ich kann ihnen ja schlecht sagen, dass Maurice mich verraten hat, mich nur ausnutzen wollte. Was soll ich denn jetzt nur machen, verdammt? Gerade meine Mum wird wahrscheinlich fast so enttäuscht sein, wie ich. Scheiße, ich habe diesen Jungen die ganze Zeit über geliebt und meine Mutter liebt ihn wie einen Sohn. Wie kann er uns das nur antun? Ich verstehe das einfach nicht.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ertappt zucke ich zusammen. Manu steht neben mir und wirft schweigend einen Blick auf die Bilder in meiner Hand. Er muss gar nicht erst was dazu sagen, ich weiß selbst, dass es dumm ist. Ich sollte Maurice nicht so nachtrauern, das hat er gar nicht verdient. Und trotzdem fällt es mir verdammt schwer. Ich wäre bereit dazu gewesen, alles für Maurice zu tun und ich befürchte, es ist immer noch so. Ich habe Angst, was passiert, sollte ich ihm jemals wieder gegenüberstehen. Er war ein fester Bestandteil meines Lebens und plötzlich ist er einfach so weg, als wäre er nie da gewesen. Das einzige, was mir bleibt, sind die Bilder und meine Erinnerungen. Aber sobald ich wieder nach Hause komme, wird sein Fehlen noch auffälliger werden, als eh schon. Es wird schwer werden, ihn aus meinem Leben zu verbannen. Vor allem, weil er auch so krass in meine Familie integriert war. Es tut einfach weh, zu wissen, dass die Person, die man über alles liebt einen nur ausgenutzt hat.

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