Kapitel 98; Manuel

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Wir sitzen jetzt schon eine Weile schweigen auf dem Dach des Klettergerüstes der Rutsche und starren in die Nacht hinein. Dicke Wolken bedecken den Himmel und ich bin froh, dass sie da sind, denn ohne sie wäre es einfach noch kälter, als es ohnehin schon ist.

„Meinst du die Frage wirklich ernst?“, unterbricht Palle das Schweigen und ich nicke, als ich bemerke, dass er abwartend zu mir blickt. „Was fühlst du denn, wenn du keine Trauer fühlst?“, fragt er vorsichtig und ich lasse eine längere Gesprächspause entstehen. Was wird Palle von mir denken, wenn ich sage, dass ich irgendwie erleichtert bin?

„Taub irgendwie, aber wahrscheinlich nur weil es so surreal ist“, lasse ich ihn wissen und schweige wieder.

„Sonst nichts?“, wieso fragt er das? Was will er von mir hören?

„Was willst du von mir hören?“, frage ich leicht genervt und drehe meinen Kopf in seine Richtung. „Ich fühle nichts! Ich denke an sie, versuche traurig zu sein und es klappt nicht. Es geht einfach nicht! Mir fällt nur eine positive Erinnerung ein und ehrlich gesagt, bin ich mir da nicht mal mehr sicher, ob die Erinnerung die beiden wirklich betrifft“, ich lege meinen Kopf in meinen Händen ab, will zurückzucken, weil meine Hände so verdammt kalt sind, lass sie aber wo sie sind. „Die ganzen beschissenen Erinnerungen würden sowieso jede positive in den Schatten stellen und ich-“, bin erleichtert, dass keine neuen kack Erinnerungen dazu kommen können, wollte ich sagen. Ich schließe meine Augen. Wieso bin ich so? Was stimmt nicht mit mir? Wo ist meine Trauer, verdammt?!

„Und du?“, fragt Palle sanft nach und ich spüre wie seine Hand sich um mein Handgelenk legt. Mit sanftem Druck bringt er mich dazu meine Hände von meinem Gesicht zu entfernen und ihn wieder anzublicken. Er lächelt mich aufmunternd an und ich spüre wie meine Mundwinkel sich leicht heben. Wieso habe ich eigentlich Angst davor Palle zu sagen, was ich denke? Er wird der letzte sein der mich verurteilt.

„Ich bin irgendwie erleichtert. Erleichtert, dass sie nie wieder irgendwelche dummen homophoben Bemerkung machen können und ich bin erleichtert, dass sie nie wieder irgendjemanden verbal zerfetzen können“, gestehe ich und beobachte Palles Mimik genau. Sein Lächeln ist genauso aufmunternd, wie es vor meinem Geständnis war und ich frage mich wie ich auch nur einen Augenblick daran zweifeln konnte.

„Weißt du, angesichts der Tatsache wie deine Großeltern sich dir beziehungsweise deiner ganzen Familie gegenüber verhalten haben, finde ich sogar, dass du dir viel zu viel Mühe gibst traurig darüber zu sein“, jetzt hat er seine Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen, überlegt wahrscheinlich was er noch sagen soll. „Du bist nicht dazu verpflichtet Trauer zu empfinden, wenn Menschen sterben, die dich so mies behandelt haben, aber trotzdem versuchst du es.“ Er macht eine kurze Pause, dann lacht er kurz auf. „Shit“, gibt er leicht amüsiert von sich. „Du gehst sogar soweit zu denken, dass du ein schlechter Mensch bist, obwohl sie die schlechten Menschen sind- ich meine waren.“ Ich lehne mich stumm gegen Palle, der mich sofort näher an sich heran zieht. Das habe ich gerade gebraucht, auch wenn es die Zweifel nicht ganz beseitigt hat, aber wenigstens für diesen Moment hier fühle ich mich wieder gut.

„Danke“, hauche ich und spüre ein paar Sekunden später, kalte Lippen an meiner Wange. Automatisch muss ich lächeln. Palle zieht mich zwischen seine Beine und ich lehne mich gegen seine Brust, während seine Arme sich um mich legen und er seinen Kopf auf meiner Schulter betet. Ich schließe meine Augen und genieße den Kontrast der Wärme, die von Palle ausgeht und der Kälte der Nacht. Ich weiß nicht wie lange wir stumm so gesessen haben, aber nach einer Weile stuppst Palle mich an.

„Es schneit“, flüstert er und ungläubig öffne ich meine Augen. Tatsächlich. Winzige Flöckchen rieseln langsam vom Himmel und schmelzen sobald sie den Boden berühren. Lächelnd betrachte ich die langsam durch die Luft tanzenden Schneeflocken und die Hoffnung auf weisse Weihnachten werden bestärkt, auch wenn es unwahrscheinlich ist, schließlich bleibt der Schnee nicht liegen. „Wir sollten nachhause gehen“, bestimmt Palle und er hat recht. Langsam lösen wir uns voneinander und mir wird wieder schlagartig bewusst wie kalt es ist, ohne Palle, der mich wärmt. Wäre das Dach der Rutsche nicht aus Holz, sondern aus Metall, hätten wir wohl eine Blasenentzündung bekommen. Vorsichtig klettern wir vom Dach runter und machen uns Händchen haltend auf den Weg nachhause.

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