Kapitel 27; Michael

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Leise lasse ich die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fallen. Maurice dürfte davon eigentlich nicht aufgewacht sein. Ich laufe die Treppen runter und sobald ich vor die Haustür trete, werde ich in das rastlose Treiben der Stadt gezogen. Schulkinder, die sich jetzt schon über das nächste Wochenende unterhalten, laufen an mir vorbei. Grundschüler müsste man sein. Direkt dahinter ein Mann, der es ziemlich eilig zu haben scheint. Wortlos drängt er sich an den Kindern vorbei, die nichts anderes tun können, als auszuweichen. Sie tuscheln, gerade so, dass der Typ sie nicht hören kann. Aber darüber müssten sie sich eigentlich keine Gedanken machen, er ist schon längst ein paar Meter weiter, seine Umwelt ignorierend. Die Kinder laufen sorglos weiter, der kurze Zorn wahrscheinlich schon wieder vergessen. Ich verlasse die Türschwelle, laufe die Straße entlang. Zahlreiche Autos fahren an mir vorbei. Fußgänger kommen mir entgegen. Keiner achtet wirklich auf den anderen. Sobald man an einer Person vorbei gelaufen ist, ist ihre Existenz nicht mehr von Bedeutung. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt, jeder ist sich selbst der nächste. Es ist seltsam ruhig, trotz dem Lärm der Stadt. Die Anonymität sorgt dafür, dass man sich fast schon alleine vorkommt. Keine Wärme, die von den Mitmenschen ausgeht. Zusammengeworfene Fremde, die sich wahrscheinlich nie wieder sehen werden oder sie erinnern sich nicht daran, sich vorher schon einmal begegnet zu sein. Trotz der vielen Menschen herrscht fast schon Einsamkeit, aber sie ist nicht bedrückend, eher im Gegenteil: Sie ist beruhigend. Da ist niemand, der unbedingt wissen will, wie's einem geht oder was man denkt. Man ist für sich, hat Zeit zum nachdenken. Genau das brauche ich jetzt.

Ich biege in den Stadtpark ab. Ich bin noch nicht weit reingelaufen, aber schon ändert sich die Atmosphäre. Der Lärm der Stadt bleibt zurück, es wird leiser. Die Motoren der Fahrzeuge sind nur noch dumpf zu hören, niemand schreit in sein Handy. Auch hier sind recht viele Menschen unterwegs, aber sie sind anders. Zumindest ein wenig. Niemand wirkt gehetzt. Die meisten sehen sich in Gesicht, wenn sie aneinander vorbeilaufen, lächeln. Teilweise ringt man sich zu einer Begrüßung durch. Hunde zerren an den Leinen ihrer Besitzer, die gemächlich hinterher laufen. Schlafende Babys lassen sich von ihren Eltern im Kinderwagen durch die Gegend schieben. Zu der inneren Ruhe kommt jetzt auch eine wirkliche Ruhe, es ist ziemlich leise. So leise, wie es in einem Stadtpark eben sein kann. Je weiter ich in den Park laufe, desto weiter breitet sich die Stille aus. Bei dem kleinen Teich angekommen, setze ich mich auf eine Bank. Gerade ist einer der Momente, in denen ich mir wirklich wünsche, Gonzo wäre hier. Gonzo, dem kleinen Mops, dem ich jeglichen Mist anvertraue, sobald niemand in der Nähe ist. Meistens schläft er ein, wenn ich mit ihm rede, manchmal stuppst er mich mit der Schnauze an. Aber es reicht. Ich brauche keine richtigen Antworten, Hauptsache, ich kann jemanden zutexten und Gonzo ist eben der geborene Zuhörer.

Gerade könnte ich das wirklich gut gebrauchen. Die Sache mit Maurice beschäftigt mich immer noch. Ich habe diese Nacht kaum geschlafen. Nicht, dass ich das nicht gewöhnt bin, aber der Grund ist mir neu. Verliebt in Maurice. Verliebt in einen Freund. Der Klischee-Romanzenshit, von dem ich immer gehofft habe, er möge mir erspart bleiben, trifft ausgerechnet mich. Das Problem ist nicht, dass er männlich ist. Dann ist das halt so. Das Problem ist, dass Maurice... Naja, eben Maurice ist. Mir gefällt seine Nähe und ich mag es, ihn bei mir zu haben. Genauso brauche ich ihn aber auch als Freund. Ich kann's mir einfach nicht leisten, ihn durch irgendeine unbedachte Aktion zu verlieren. Maurice ist einer der wenigen, der nicht wegen Geld mit mir befreundet ist, sondern weil ich ich bin. Nicht weil er was haben will oder ich ihm Vorteile bringe, sondern weil er mich einfach so mag. Als Freund. Nicht mehr, nicht weniger. Ob sich das irgendwann ändert? Ich weiß es nicht. Ich will so viel, aber alles, was ich gerade will, ist Maurice. Liegt das auch an meinem Gegenstand? An der Gier? Kann man gierig in Bezug auf Menschen sein? Oder eher, wie stark beeinflussen die Gegenstände sowas?

Ich schrecke auf, als etwas in meiner Jackentasche vibriert. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich begreife, dass es mein Handy ist. Schnell ziehe ich es hervor und sehe auf das Display. Mama.

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