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Regenwürmer. Da waren sie. Unbeholfen tummelten sie sich in der feuchten Erde. Es waren erstaunlich viele. Zehn, zwölf, vielleicht mehr.

Mit Pfote und Schnauze schob Nia den Stein, den sie zuvor nur angehoben hatte, nun vollständig beiseite. Sie sah, wie er sich ein, zwei Mal auf dem erdigen Untergrund überschlug, ehe er liegen blieb. Dann wandte sich die junge Löwin gebannten Blickes wieder ihrem Fund zu. Um die Tiere, die sie zum Vorschein gebracht hatte, näher inspizieren zu können, legte sie sich auf den Boden, die Vorderbeine angewinkelt, den Kopf neugierig gebeugt. Ein Lächeln glitt über ihre Züge. Direkt vor ihren Augen gab es Regenwürmer in allen nur denkbaren Formen: große und kleine, dicke und dünne, längliche. Sie alle waren eifrig dabei, sich dem Sonnenlicht zu entziehen, indem sie sich Stück für Stück in den kühlen Boden eingruben.

»Ihr seid unruhig.« Nias Lächeln schwand.

»Natürlich seid ihr das. Ich habe euch aufgescheucht. Verzeiht mir.«

Und trotzdem... etwas war anders. An den Stellen, an denen der Boden so locker und erdig war wie hier, bekam man des öfteren nach einem kräftigen Regenschauer Regenwürmer zu Gesicht, sofern man wusste, wo man suchen musste. Wenn der Regen den Boden aufgeweicht hatte, kamen sie gerne an die Oberfläche. Und Regen war zu dieser Zeit keine Seltenheit. Die Wolken, die von Westen her aufzogen, verfingen sich häufig in den spitzen Klauen der hochragenden Berge und ließen ihre zahllosen Tropfen vom Himmel fallen, ehe sie weiterzogen oder sich verflüchtigten. Und der Sturm hatte viele Wolken mit sich gebracht.

Nia war so vertieft in das Kriechen und Winden der Würmer, dass sie nicht einmal bemerkte, wie sich ihr jemand näherte. Die andere Löwin war älter und reifer als Nia. Sie besaß weder den Flaum noch die Andeutungen bräunlicher Flecken entlang der Vorder- und Hinterbeine, die Nia als Junglöwin kennzeichneten. Ihr Fell war heller als Nias und sie war alles in allem größer und kräftiger gebaut. Auch ihre Körperhaltung wirkte erhabener und das obwohl Ardhi nie viel Wert darauf legte, sich vor den anderen Rudelmitgliedern zu präsentieren.

»Nia, wo bleibst du denn?«, sprach sie und trat heran. »Alle warten auf dich!«

Sie musterte die Jüngere skeptisch, die nur Augen für die Erde vor ihren Pfoten hatte.

»Was tust du denn da im Dreck?«

Es dauerte einen Augenblick, ehe Nia antwortete.

»Ich beobachte Regenwürmer.«

So wie sie es sagte, klang es wie das Natürlichste der Welt.

Ardhi seufzte. Obwohl sie Nias eigenartige Spielchen nur zu gut kannte, war sie immer wieder erstaunt, auf was für Ideen die junge Löwin kam. Heute schien sie offenbar eine neue Stufe der Absonderlichkeit erreicht zu haben.

»Bist du schon so verzweifelt, dass du jetzt Regenwürmer frisst?«

»Ich möchte sie nicht fressen«, entgegnete Nia. »Ich beobachte sie bloß.«

Nias Schwanzspitze peitschte aufgeregt durch die Luft als sie sah, dass sich einer der Würmer beinahe vollständig eingegraben hatte.

»Was auch immer du tust, du kannst auch später damit weitermachen. Jetzt gibt es erst einmal Wichtigeres zu erledigen. Je länger wir Samaha und die anderen warten lassen, desto ungeduldiger werden sie. Und auch mein Magen besitzt leider nicht die Fertigkeit, sich selbst zu füllen, so sehr ich es mir auch wünschen mag.«

Nias Laune sank sichtlich. Sie hob den Blick, jedoch ohne Ardhi anzusehen. Stattdessen schien es, als starrten ihre Augen einfach in die Leere.

»Ich möchte nicht jagen«, gestand sie ihrer Freundin. »Du weißt, dass ich keine gute Jägerin bin.«

»Du wirst auch nie eine werden, wenn du dir keine Mühe gibst!«

Es war keineswegs Faulheit, die Nia davon abhielt, gute Leistungen zu erbringen, so viel wusste Ardhi. Sie hatte in den vergangenen Wochen durchaus versucht, sich zu steigern und mit den anderen jungen Löwinnen mitzuhalten. Es war ihr jedoch nicht sonderlich gut gelungen und das hatte ihr offenbar mehr zugesetzt als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Trotzdem war Ardhi überzeugt davon, dass Nia nicht weniger Wert war als die anderen Löwinnen des Rudels.

»Hör zu«, sprach sie sanft. »Niemand erwartet von dir, dass du mehr tust als du im Stande bist zu tun. Aber als Teil des Rudels musst du deinen Beitrag leisten, so wie wir alle. Davor wirst du dich nicht verstecken können.«

Es verstrich ein weiterer Moment des Schweigens. Ein leichter Windhauch zog von Westen her den Hang herauf und ließ die Gräser rascheln.

Schließlich nickte Nia einsichtig. »Du hast recht. Jeder von uns muss seinen Beitrag leisten. Auf die eine oder andere Weise.«

Die Art, in der Nia die Worte aussprach, ließ Ardhi zögern. Nias Stimme klang hohl und leer und ihre Augen schienen noch immer abwesend, verloren in einer anderen Welt, fernab des Rudels und allem, was sie umgab.

Doch schon im nächsten Augenblick verflog die Leere und Nia richtete sich auf, um ihrer Freundin dankbar zuzulächeln, was Ardhi sehr begrüßte.

»Na komm, lass uns gehen«, sprach Ardhi aufmunternd. »Mich würde es sehr wundern, wenn du nicht auch ein wenig Appetit verspürst, so ausgehungert wie du aussiehst.«

Nia nickte. »Geh ruhig schon vor. Ich komme sofort nach, versprochen!«

Ardhis Blick ließ erahnen, dass sie Zweifel an Nias Versprechen hatte. Doch schließlich wandte sie sich ab und lief voran, den Hang hinab zu den anderen, die unten auf dem Plateau auf sie warteten. Nur kurz sah ihr Nia hinterher, dann machte sie sich daran, den Stein, den sie zuvor beiseite geschoben hatte, wieder auf seinen Platz zu schieben, um den Regenwürmern ihren Sonnenschutz zurückzugeben.

Sie hatte es beinahe geschafft, als ihr etwas auffiel. Einer der Regenwürmer hatte aufgehört, sich zu bewegen. Er lag ganz still, halb eingerollt, und rührte sich auch dann nicht, als Nia ihn vorsichtig mit der Pfote berührte.

»Eigenartig...« Nia hätte schwören können, dass genau dieser Regenwurm sich gerade eben noch gewunden hatte. War ihm die Sonne so schlecht bekommen?

Nachdem der Stein wieder an seinem ursprünglichen Platz lag, erhob die Löwin sich, um Ardhi hinab auf das Plateau zu folgen. Sie war noch keine zehn Schritt weit gekommen, da hielt sie inne und blickte noch einmal über die Schulter zurück. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie, eines, das sie nicht richtig zuzuordnen vermochte. Weder konnte sie sagen, was es bedeutete, noch woher es kam. Doch es sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Etwas war nicht so, wie es sein sollte.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt