Flink und elegant wie ein Gepard - Teil 2

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Ardhi hob den Kopf und sah Nia über das dichte Gestrüpp hinweg an. »Es gibt noch andere Savannenbewohner, die in der Lage sind, eine ausgewachsene Kuhantilope zu erlegen, jedenfalls wenn sie in einer Gruppe jagen.«

»Du meinst Geparden?«, fragte Nia.

Geparden bekam man auf den weiten Savannenebenen und auch hier im Hochland des Öfteren zu Gesicht. Da die flinken und graziösen Räuber jedoch nicht größer als eine Junglöwin waren und gleichzeitig um einiges leichter, gingen sie ihren entfernten Verwandten in der Regel aus dem Weg. Ihre Hauptjagdzeit lag in der Mittagshitze, in der die größeren Jäger für gewöhnlich den Schatten bevorzugten. Direkte Konfrontationen mieden sie, solange sie nicht in der Überzahl waren, was selten vorkam, da Geparden im Gegensatz zu Löwen keine Rudel bildeten. Nia hatte jedoch von den anderen Löwinnen gelernt, dass Gepardenmännchen sich in manchen Fällen zu kleineren Gruppen zusammenschlossen, die durchaus eine Bedrohung darstellen konnten.

Während sie die Spuren betrachtete, dachte Nia über Ardhis Vermutung nach. Trotz ihrer eher geringen Größe waren Geparden gefährliche und nicht zu unterschätzende Jäger. Einer Kuhantilope konnte eine Gruppe ausgewachsener Gepardenmännchen sehr wohl zu Leibe rücken. Auch der Appetit, von dem die wenigen Überreste der Antilope zeugten, sprach für eine Gruppe von Jägern. Doch irgendetwas sagte Nia, dass die Spur, die Ardhi entdeckt hatte, nicht die Spur eines Geparden war. Zum einen wirkten die Pfotenabdrücke zu groß, selbst für ein vollkommen ausgewachsenes Geparden-männchen. Und da war noch etwas anderes.

»Die Krallen fehlen«, murmelte Nia vor sich hin, ehe sie aufsah und ihrer Tante einen triumphierenden Blick zuwarf.

»Die Krallen? Wie bitte?« Ardhis Blick ließ erahnen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wovon Nia sprach.

»Es ist ganz einfach«, begann Nia zu erklären. »Erinnerst du dich an das, was Shahidi uns zu Beginn der letzten Trockenzeit über Geparden erzählt hat? Du warst dabei!«

Noch immer schien Ardhi nicht zu wissen, worauf ihre Freundin hinaus wollte. »Nun, ich gebe zu, dass ich Shahidis Worten selten viel Gehör schenke. Es ist das erste Mal, dass ich es tatsächlich bereue. Also bitte, klär mich auf.«

Einer afrikanischen Legende zufolge gab es einst vor vielen Jahren, als die Welt noch jung war, ein Wettrennen zwischen den Landtieren. Es sollte für alle Zeit klarstellen, welches der Tiere der schnellste Läufer unter der Sonne war. An diesem Rennen nahmen neben dem Geparden auch die graziöse Gazelle und der flinke Wildhund teil. Alle drei waren überzeugt davon, schnell wie der Wind zu sein und jeden anderen Savannenbewohner schlagen zu können.

Als das von den Tieren lang erwartete Rennen begann, war es der Gepard, der augenblicklich die Führung übernahm, dicht gefolgt von der Gazelle. Der Wildhund dagegen blieb weit zurück und schon sehr bald musste er einsehen, dass es gegen diese beiden Kontrahenten keinen Sieg zu holen gab.

Das Ziel war schon nahe und somit auch der Titel, da begann der Gepard seine letzten Reserven auszuschöpfen und legte noch einmal zu, im festen Glauben daran, dass er die Gazelle auf den finalen Sprüngen problemlos hinter sich lassen würde. Doch als er zurückblickte, um seine Verfolger auszumachen, musste er mit ansehen, wie die Gazelle in ihrem verzweifelten Versuch, mit dem Geparden Schritt zu halten, das Gleichgewicht verlor und stürzte.

Als der Gepard dies sah, wurde ihm bewusst, dass der Titel zweitrangig war. Nur wenige Schritte von der Zielgeraden entfernt, machte er eine scharfe Kehrtwende, wobei seine Pfoten alle Mühe hatten, Halt zu finden. Staub und Sand wirbelten auf und es hätte nicht viel gefehlt und den Geparden hätte in seinem gewagten Manöver ein ähnliches Schicksal ereilt wie seine unglückliche Kontrahentin. Doch bevor seine Pfoten gänzlich den Halt verloren, fand der Gepard mit viel Glück sein Gleichgewicht wieder. Er eilte augenblicklich zu der am Boden liegenden Gazelle, die sich beim Sturz eines ihrer dünnen Beine gebrochen hatte. Vorsichtig half er ihr auf und stützte sie, während sie humpelnd die Bahn verließ und das Rennen somit aufgab.

Der Wildhund, der nun als einziger verbliebener Teilnehmer für den Titel infrage kam, erkannte voll Bewunderung den Edelmut des Geparden. Auch er brach das Rennen auf der Stelle ab und lobte den Geparden für seinen Einsatz und sein Mitleid mit der Gazelle. Da er seine volle Wertschätzung aber nicht recht in Worte zu fassen wusste, machte er der flinken Raubkatze stattdessen ein Geschenk. Da er mitangesehen hatte, wie die Pfoten des Geparden während seiner scharfen Kehrtwende beinahe versagt hätten, gab er ihm seine eigenen.

Seitdem ähneln die Pfoten des Geparden den Pfoten keiner anderen Raubkatze. Ihre Sohlenpolster sind härter und besitzen Rillen, die für besseren Halt in scharfen Kurven sorgen. Außerdem ist der Gepard als einzige Katzenart nicht in der Lage, seine Krallen einzufahren, da er sie selbst beim Laufen benutzt.

Heute ist es allgemein bekannt und erwiesen, dass der Gepard der wahre Blitz der Savanne ist. Und nicht nur das, mit einer Höchst-geschwindigkeit von über einhundert Kilometern pro Stunde ist der Gepard das schnellste Landtier, das über die Oberfläche unseres Planeten sprintet. Und mag er möglicherweise auch Teile seines Edelmutes eingebüßt haben, so ist er doch immer noch ein beeindruckendes Beispiel an Geschwindigkeit und Agilität.

»Die Krallen eines Geparden sind immer ausgefahren«, erklärte Nia. »Deshalb müsste man ihre Abdrücke erkennen können. Aber hier sind keine Krallenabdrücke, also kann die Spur nicht von einem Geparden stammen. Das gleiche gilt auch für Hyänen.«

»Das ist clever, Nia«, sprach Ardhi, offensichtlich beeindruckt von so viel Scharfsinn. »Darauf wäre ich nicht gekommen.«

Nia bemühte sich um ein möglichst bescheidenes Lächeln. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Shahidis Wissen weitergeholfen hatte. Ganz sicher war es nicht verkehrt, der alten Löwin von Zeit zu Zeit zuzuhören.

»Das Ganze führt uns dummerweise zu einem Problem.« Ardhi wurde wieder ernster. Mit der Schnauze deutete sie in Richtung des Kadavers. »So langsam gehen mir die Ideen aus, wer oder was hier auf der Jagd gewesen ist. Hast du vielleicht noch so einen Geistesblitz parat?«

Auch Nia verging das Lächeln, als sie erst hinüber zu der toten Antilope sah und dann zurück zu den Spuren vor ihren Pfoten. Sicherlich gab es noch eine Vielzahl von möglichen Erklärungen für das, was hier geschehen war. Es war auch weniger die Tatsache, dass ein offenbar fremdes Tier hier ohne das Wissen des Rudels Beute gemacht hatte, die Nia beunruhigte. Vielmehr war es die Art und Weise, in der Nia auf diesen Fund gestoßen war, sowie das angespannte Gefühl in der Magengegend, das ihr der Anblick der Szenerie verschaffte.

»Ich kann dir nicht sagen, was hier passiert ist.« Als ihre Gedanken zu kreisen begannen und die fremden und beängstigenden Bilder, die sie während ihres Sturzes gesehen hatte, noch einmal vor ihrem geistigen Auge entlang zogen, legte Nia beinahe instinktiv eine ihrer Pfoten in den Abdruck direkt vor ihr. Erst jetzt fiel ihr auf, wie groß er tatsächlich war, deutlich größer als ihr eigener oder Ardhis Abdruck.

»Aber es würde mich nicht wundern, wenn wir es schon bald erfahren.«

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt