Der Abgrund - Teil 1

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Nachdem Samaha von ihrem fruchtlosen Gespräch mit Tazamaji berichtet hatte, stieg die Anspannung im Rudel ins Unermessliche. Besonders unter den jüngeren Löwinnen entbrannte eine wahre Hysterie, geboren aus dem Unwissen, über das, was nun geschehen würde. Die Älteren hatten vor langer Zeit schon einmal einen Machtwechsel miterlebt. Der junge Tazamaji war damals recht friedfertig vorgegangen, was insbesondere auf die Tatsache zurückzuführen war, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen Nachwuchs im Rudel gegeben hatte und somit das Töten unschuldiger Jungen ausgeblieben war. Shahidi, die Älteste, wusste jedoch von einer Begebenheit, die noch weiter zurück lag und weitaus weniger gewaltfrei abgelaufen war. Sie sprach äußerst ungerne darüber und selbst wenn sie es tat, wirkten ihre Erinnerungen oft wirr und zusammenhangslos. Trotzdem kannte jede der Löwinnen ihre Erzählungen und sie alle vereinte die Angst, dass sich ein solches Blutbad noch einmal wiederholen könnte.

Samaha, die von einem Felsen aus Ausschau hielt, sah die Fremden zuerst. Sie näherten sich aus westlicher Richtung, zwar langsam, aber mit deutlicher Beharrlichkeit. Es war der Beweis dafür, dass Nia die Wahrheit gesagt hatte. Ardhi, die Nias Aussage zuvor in Frage gestellt hatte, ließ sich nichts anmerken, sie beobachtete lediglich das Näherkommen der beiden Löwen mit finsterer Miene.

Gekonnt sprang Samaha von ihrem Ausguck herab und landete zwischen den anderen Löwinnen. Nia war sich sicher, dass sie allein der Grund war, warum das unruhige und verunsicherte Rudel überhaupt noch zusammenhielt. Mit jeder Bewegung strahlte sie Mut und Zuversicht aus, Brust und Kopf hoch gehoben, kein Anzeichen von Furcht zeigend.

Als die Fremden sich näherten, konnte Nia ihre Gesichter ein weiteres Mal an diesem Tag ausmachen. Sie erschauderte beim Anblick des trüben, milchigen Auges des Größeren und Kräftigeren unter ihnen. Sein ungetrübtes Auge schien jede einzelne Löwin genau zu mustern, während der Rest seines Gesichts kalt wirkte, ohne den Hauch einer Gefühlsregung. Anders der zweite Fremde. Sein Blick strahlte eine makabere, an Wahnsinn grenzende Vorfreude aus. Im Gegensatz zu seinem Gefährten betrachtete er das Rudel wie ein hungriger Jäger seine frisch erlegte Beute.

Erst als die Fremden nur noch wenige Schritte von der Gruppe eingeschüchterter Löwinnen trennten, blieben sie stehen. Die Stille wurde unerträglich. Dann ergriff der Löwe mit dem trüben Auge das Wort. Seine Stimme klang kräftig und unbeirrbar, gleichzeitig schwang eine beunruhigende Art von Feinfühligkeit in ihr mit.

»Wo ist eurer Anführer? Ist etwa niemand hier, um sich uns entgegenzustellen?«

Bei diesen Worten drehte sich Nia der Magen um. Irgendetwas sagte ihr, dass der Fremde ganz genau wusste, dass Tazamaji die Flucht ergriffen hatte, um sein eigenes Leben zu retten. Ihre Vermutung wurde untermauert, als sie sah, wie der andere der beiden Löwen zufrieden seine Lefzen hochzog und seine vergilbten Reißzähne entblößte.

Unbeeindruckt von diesem Anblick trat Samaha einen Schritt vor und löste sich damit aus der scheinbaren Sicherheit der Gruppe an Löwinnen, die dicht beisammen kauerten. Noch immer zeigte sie kein Anzeichen von Respekt oder gar Furcht vor den Fremden.

»Wir können uns sehr gut selbst verteidigen, ob du es glaubst oder nicht«, sprach sie kühn.

Der Große lächelte spöttisch.

»Nun, ich glaube es nicht. Ein Rudel ohne Anführer ist ein dem Tod geweihtes Rudel, so lautet das Gesetz der Savanne. Das sollte euch doch bewusst sein.« Sein Blick tastete die Löwinnen der Reihe nach ab. »Oder etwa nicht?«

»Was wollt ihr hier?«, fragte Samaha direkt heraus, so wie es ihre Art war.

Ihrem Gegenüber schien das zu gefallen.

»Wir wollen das, was alle Löwen wollen«, entgegnete er trocken. »Siehst du, noch vor wenigen Tagen hatten auch wir ein Rudel, sechs gesunde Weibchen, die uns treu ergeben waren. Jedenfalls dachten wir das, bis dieser Sturm aus dem Nichts aufzog. Eine der Löwinnen wurde während des Unwetters von einem zuckenden Blitz niedergestreckt. Viel ist nicht von ihr übrig geblieben.«

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt