Gazellen - Teil 1

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»Nia! Runter mit dir!«

Für den Bruchteil eines Augenblicks war Nia starr vor Schreck. Sie war aufgesprungen, als sie die Gazellen näherkommen gehört hatte, doch jetzt begriff sie, dass die Tiere noch viel zu weit entfernt waren, um wirkungsvoll zuschlagen zu können. Sofort duckte die junge Löwin sich wieder in das dornige Gestrüpp, das sie sich - zu ihrem eigenen Verdruss und entgegen gut gemeinter Ratschläge ihrer Tante - als Deckung ausgesucht hatte und das über einen gefühlten halben Nachmittag hinweg ihr Fell und ihre Haut malträtiert und dabei unschöne Kratzspuren hinterlassen hatte. Sie ignorierte den stechenden Schmerz am ganzen Körper so gut sie konnte und konzentrierte sich auf das Getrappel der zierlichen Paarhufe, die sich ihnen Stück für Stück näherten.

»Was tust du denn da?«, zischte Ardhi, die nicht weit entfernt zwischen einigen verstreuten Steinen lag, Bauch und Brust fest auf den sandigen Boden gepresst.

Nia wagte nicht zu antworten. Sie hatte Sorge, dass das kleinste Geräusch, das sie nun von sich gab, sie verraten könnte. Ihre Voreiligkeit hatte die Jagd massiv gefährdet und sie konnte von großem Glück reden, dass keine der Gazellen sie bemerkt zu haben schien. Immerhin hatte sie nun einen besseren Blick durch dir Dornenzweige.

Nachdem Nia und Ardhi zu den anderen Löwinnen des Rudels, die man nicht aufgrund von Alter oder Nachwuchs von der Jagd freigestellt hatte, gestoßen war, hatte Samaha wie üblich die Führung übernommen. Sie hatte die Jägerinnen weit hinaus auf das Plateau geführt, deutlich weiter als sie es sonst tat. Auf von ihrer Herde getrennte Einzeltiere waren sie hier draußen nicht gestoßen, dafür aber nach längerer Suche schließlich auf eine kleine Gruppe von sechs Thomson-Gazellen, die an einem dicht bewachsenen Hang gegrast hatten. Samaha und zwei der anderen Löwinnen hatten sich daraufhin aufgemacht, den Hang weiter südlich zu erklimmen, um die Gazellen zu den übrigen Jägerinnen zu treiben. Da sie es vermeiden wollten, gewittert zu werden und gleichzeitig planten, einen möglichst breiten Bereich abzudecken, hatten sich die Löwinnen paarweise in einigem Abstand von den jeweils anderen Jägerinnen auf die Lauer gelegt. Nia und Ardhi hatten gemeinsam die linke äußere Flanke übernommen.

Die Folge ihres durchdachten Vorgehens war eine ebenso elendiglich lange wie auch nervenzerreißende Geduldsprobe gewesen. Das Warten war so unerträglich geworden, dass Nia ernsthaft darüber nachgedacht hatte, einen Abstecher zum Fluss zu machen und zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren. Es hätte sie nicht einmal verwundert, wenn sie unterwegs auf Samaha und die anderen Treiberinnen gestoßen wäre, die sich dort vermutlich spöttisch amüsierten, während der Rest von ihnen hier draußen versauerte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war schließlich doch etwas geschehen. Die kleine Gazellengruppe war in Aufruhr geraten und die Tiere setzten sich nacheinander in Bewegung. Erst sah es so aus, als ob die Tiere nach Norden flüchteten, doch dann schlugen sie einen Bogen und stürmten den Hang hinab, direkt auf Nia und Ardhi zu.

»Bleib ruhig und warte auf mein Zeichen«, flüsterte Ardhi, deren Krallen bereits in Vorfreude auf den Nervenkitzel der Jagd durch den heißen Sand fuhren.

Diese Vorfreude konnte Nia in keiner Weise teilen. Jeder wusste, dass Ardhi die weitaus versiertere Jägerin von ihnen war. Wenn jemand tatsächlich eine der Gazellen zu Fall bringen würde, dann war sie es, alles andere war eine Illusion, der Nia nicht zu verfallen drohte. Ardhi besaß all das Talent, das Nia schon immer gefehlt hatte. Hinzu kam, dass sie um einiges mehr an Erfahrung vorweisen konnte, was sich in ihrer Gelassenheit widerspiegelte. Man sah ihr an, dass sie sich und ihren Körper zu jeder Zeit unter Kontrolle hatte.

Nia hingegen war im Angesicht der sich mit hoher Geschwindig-keit nähernden Gazellen wie gelähmt vor Anspannung. Von Atemzug zu Atemzug wurde ihr Herzschlag schneller. Viel hätte nicht gefehlt und sie hätte sich direkt hier und jetzt vor ihre Pfoten erbrochen.

»Konzentrier' dich, Nia! Ziel auf ihren Hals, dann kannst du nichts falsch machen!«

Mit diesen letzten ermutigenden Worten widmete sich Ardhi nun voll und ganz den sich nähernden Huftieren.

Nichts falsch machen? Nia hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, was bei einer Jagd alles schief laufen konnte. Man hätte sagen können, dass sie die gescheiterte Jagd auf ein neues Niveau gehoben hatte. Und das unzählige Male.

Aus dem Augenwinkel sah die junge Löwin, wie sich die Muskeln ihrer Freundin vor Erregung anspannten. Sie gab sich alle Mühe, es ihr gleich zu tun, sich von nichts und niemandem ablenken zu lassen, mit Boden und Wind zu verschmelzen, so wie man es ihr beigebracht hatte.

Das Getrappel schwoll an und aus ihrem Versteck konnte Nia den zierlichen Tieren, die nicht größer waren als ein Elefantenjunges, direkt in die Augen sehen. Sie sah die schwarzen und weißen Markierungen entlang der Wangenknochen und die von Rillen durchzogenen spitzen Hörner, die der Stirn entsprangen und von dort aus in einem geschwungenen Bogen gen Himmel verliefen.

»Jetzt!«

Wie vom Blitz getroffen schoss Ardhi aus ihrem Versteck hervor und stürzte auf die Beutetiere zu. Nia reagierte viel zu spät. Als sie aufspringen wollte, verfing sie sich für einen kurzen Augenblick in den Dornen, die ihr den einen oder anderen Haarbüschel aus dem Fell rissen. Der Schmerz, der durch ihre Glieder zuckte, war zu ertragen, doch ihr Ungeschick hatte sie wertvollen Schwung gekostet.

Ardhi war bereits mehrere dutzend Schritte voraus. Ihr Vorstoß trieb die Mehrzahl der Gazellen dazu, ihre Laufrichtung schlagartig zu wechseln. Mit einem Mal sah es entgegen aller Erwartungen so aus, als ob die Tiere Nias Laufweg kreuzen würden. Nia sah die typischen schwarzen Streifen auf den Flanken der kleinen Paarhufer. Sie wusste, dass dies der Moment war, an dem sich die Wege von Erfolg und Scheitern teilten. Wenn sie jetzt nicht handelte, würden die Gazellen entkommen und es wäre erneut ihre Schuld. Das konnte sie nicht zulassen. Noch nie zuvor hatten ihre Chancen auf einen Treffer so gut gestanden.

Während ihre Pfoten sich vom heißen Savannenboden abstießen, korrigierte Nia ihren Angriff, indem sie sich, so gut es ihr gelang, in die Kurve lehnte. Die vordersten zwei Tiere, darunter auch der lang gehörnte Bock der Herde, hatten sie bereits passiert, doch das dritte Tier, ein groß gewachsenes Weibchen, war mit einem Mal zum Greifen nahe. Nia peilte den Hals der Gazelle an, so wie Ardhi es ihr immer wieder vorgebetet hatte. Dann riss sie die Vorderpfoten hoch und-

Ein stechender Schmerz fuhr durch Nias Leib. Ihre Glieder schienen zu versagen, entrissen sich ihrer Kontrolle. Binnen Bruchteilen einer Sekunde legte sich ein dunkler Schleier vor ihre Augen, gefolgt von wirrem Flimmern und einem grellen Leuchten, als würde sie mit weit aufgerissenen Augen direkt in die Sonne blicken.

Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich Bilder, fremdartige Eindrücke von Orten, die Nia noch nie zuvor gesehen hatte. Sie sah eine Welle aus blutrotem Wasser über das bebende und wankende Land hinwegrauschen, Pflanzen und Tiere gleichermaßen mit sich reißend. Die Berge rings um sie donnerten und spuckten glühende Steine und heißen Staub, während der Boden unter ihren Pfoten zerriss und den Blick in einen endlosen, schwarzen Schlund preisgab. Schreie peitschten aus der Tiefe hervor und rissen an Nias Ohren. Bittere, schmerzerfüllte Schreie, die nach und nach zu einem einzigen, ausgedehnten Brüllen verschmolzen, das von Leid, Elend und tiefem Hass kündigte. 

Als Nia Atemzug um Atemzug die dünne, brennend heiße Luft einsog, erkannte sie den unheilvollen Geruch des Todes.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt