Beutezeit - Teil 2

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Mittels eines zehrenden Kraftaktes hievte sie die tote Gazelle über die Muldenkante hinab. Dann duckte sie sich, um unter den Stein zu spähen. Im Schatten konnte sie problemlos zwei Gestalten ausmachen. Auf der linken Seite der kleinen Höhle lag Shahidi ausgebreitet und schlief. Es grenzte an ein Wunder, dass Samaha ihr Schnarchen nicht bereits ein Dutzend Schritt weit vom Unterschlupf entfernt vernommen hatte. In der anderen Ecke kauerte Kimya. Mit ihrer Vorderpfote hielt sie gewissenhaft zwei ihrer Jungen zurück, die die Besucherin neugierig beäugten. Das dritte trug sie im Maul.

»Keine Angst, Kimya«, sprach Samaha, um einen beruhigenden Tonfall bemüht, der ihr nicht sonderlich gut lag. »Ich bin es nur.«

Kimya regte sich nicht. Sie bot einen furchtbaren Anblick. Ihr Fell war zerzaust und ihre Augen rot unterlaufen, als ob sie schon seit Tagen nicht mehr geschlafen hätte. Völlig erstarrt sah sie Samaha an, ohne jede Form der Gefühlsregung.

»Ich habe euch etwas Verpflegung mitgebracht«, sprach Samaha aufmunternd und zerrte die Beute in den Unterschlupf hinein.

Keine Reaktion. Lediglich Shahidis röhrendes Schnarchen wurde für einen kurzen Moment von einem feuchten Schmatzen unterbrochen.

»Kimya?« Samaha begann allmählich, sich ernsthafte Sorgen um das Wohlbefinden ihrer Freundin zu machen.

Kimya starrte sie an und Angst und Erschöpfung spiegelten sich in ihrem Blick wieder. Die bemitleidenswerte Mutter war zutiefst eingeschüchtert. Gleichzeitig sah man ihr jedoch an, dass sie entschlossen war, sich und ihren Nachwuchs notfalls mit Krallen und Zähnen gegen alles und jeden zu verteidigen. In kalter Routine setzte sie ihr Junges hinter sich ab, bevor sie zu sprechen begann.

»Er wollte sie holen kommen«, stammelte sie und ihre Stimme klang merkwürdig hohl und distanziert.

»Ich weiß«, sprach Samaha. »Ich war dabei. Hat er dir oder deinen Jungen irgendetwas getan?«

Sie schüttelte den Kopf.

Samaha versuchte abzuschätzen, ob sie die Wahrheit sagte oder ob ihr Stolz sie zwang zu lügen.

»Es wird alles gut«, versprach die Ältere. »Wir haben getan, was die Fremden von uns verlangt haben. Im Gegenzug verschonen sie deine Jungen, das haben sie versprochen.«

»Nichts ist gut!«, keifte Kimya plötzlich und zog ihre Lefzen in einer Drohgebärde zurück.

Vor Schreck wich Samaha instinktiv zurück. Mit einer derartigen Reaktion von Kimyas Seite hatte sie nicht gerechnet. Neben ihr schreckte Shahidi aus ihrem Schlaf hoch und blinzelte benommen. Selbst die Jungen wurden plötzlich unruhig, als spürten sie, dass etwas nicht stimmte.

»Du weißt ganz genau, dass es kein Entkommen gibt, also spar' dir dein Gerede!«, fuhr die junge Mutter aufgebracht fort. »Es spielt keine Rolle, was wir tun, sie werden meine Kleinen früher oder später töten. So lautet das Gesetz Mutter Naturs, oder etwa nicht?«

»Es läuft nicht immer darauf hinaus«, entgegnete Samaha und sah sich hilfesuchend nach Shahidi um. »Nicht wahr?«

Völlig überrumpelt von der Frage, starrte die alte Löwin Samaha an.

»Nun... also... ich weiß nicht...«, stotterte sie, verzweifelt einen Anfang suchend.

»Doch, es läuft immer darauf hinaus!«, fauchte Kimya. »Es läuft immer auf Blut und Mord hinaus! Ist es nicht so? War es nicht schon immer so?!«

Ohne Vorwarnung begann Kimya plötzlich zu hyperventilieren. Ihr Brustkorb hob und senkte sich so schnell, dass ihr ganzer Körper schwankte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Leere. Samaha trat auf sie zu, um ihr beizustehen, doch es machte den Anschein, als ob sie sich bereits wieder beruhigte. Tränen liefen durch ihr hübsches, helles Fell.

»Ich weiß, dass all das sehr schwierig für dich ist«, erklärte Samaha behutsam. »Aber du darfst jetzt nicht die Fassung verlieren. Deine Jungen brauchen dich. Das Rudel braucht dich.«

»Es tut mir Leid«, hauchte Kimya schwach und wandte den Blick ab, als schämte sie sich für ihr Verhalten.

»Ist schon gut, wir sind zurzeit alle ein wenig durch den Wind. Aber wir müssen das Beste aus unserer Situation machen.«

Samaha sah zu, wie die Löwin entkräftet auf den kühlen Erdboden glitt. Die Jungen hatten sich dicht an sie gedrängt. Sie schienen die Niedergeschlagenheit und Verwirrung ihrer Mutter zu spüren.

»Nadhari sagte, du hättest etwas mit angehört«, begann Samaha nach einem ausgedehnten Moment der Ruhe. »Kannst du mir mehr darüber erzählen?«

»Das kann ich«, flüsterte Kimya, den Blick starr auf die Felswand vor ihr gerichtet. »Aber bitte nicht jetzt. Ich... ich kann einfach nicht mehr.«

Samaha nickte verständnisvoll.

»Es hat Zeit, ruh' dich aus«, sprach sie. »Shahidi und ich werden Wache halten, solange du schläfst. Niemand wird dir oder deinen Jungen etwas antun.«

Kimyas Lefzen bewegten sich schwach, als wollte sie etwas erwidern. Aber ihre Augen waren bereits zugefallen.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt