Die Stimme aus der Ferne - Teil 2

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»Ich habe gehört, du hattest gestern bei der Jagd an den westlichen Hängen einen Unfall?« Die junge Mutter machte eine besorgte Miene.

»Oh, es war nichts, was der Rede wert wäre«, entgegnete Nia ausweichend. »Nur ein... ungeschickter Sturz. Mir geht es gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

Sie gab sich größte Mühe, ein überzeugendes Lächeln aufzusetzen.

»Das freut mich«, sprach Kimya. »Der Boden dort am Westhang ist tückisch, man muss wirklich genau aufpassen, wo man hintritt, sonst gleiten einem Sand und Steine unter den Pfoten weg.«

»Warst du da?«, fragte Nia, während sie ein weiteres Junges, das sich zielstrebig ihrer Brust näherte, äußerst behutsam beiseite schob.

»Nicht gestern.« Kimya winkte mit ihrer Pfote ab. »Gestern bin ich nur bis zur Beutestelle gegangen und danach direkt hierher zurückgekehrt. Ich wollte nicht länger fort bleiben als unbedingt notwendig. Aber bis vor ein paar Tagen hat es mich während der Futtersuche tatsächlich mehrmals bis an den Westhang verschlagen. Das war, bevor der Sturm mich dazu veranlasst hat, die Kleinen hierher zu bringen. Ich hatte in der Nähe des Westhangs einen gut geeigneten Unterschlupf gefunden, inmitten einer dichten Ansammlung aus Sträuchern und Gestrüpp.«

Von einem Augenblick auf den anderen war Nias Interesse geweckt. Die Jungen um sich hatte sie vergessen. Stattdessen lauschte sie mit gespitzten Ohren Kimyas Worten.

»Und?«, hakte sie nach, bedacht darauf, nicht all zu aufdringlich zu wirken. »Hattest du dort Erfolg bei der Jagd? Ganz alleine?«

Kimya schien die beinahe überspitzte Aufmerksamkeit, die ihre Rudelgefährtin ihren Worten schenkte, zu bemerken. Mit abschätzen-dem Blick betrachtete sie Nia, skeptisch, ja beinahe ein wenig misstrauisch.

»Nein. Das Glück war mir in dieser Zeit leider nicht besonders hold. Ich habe mich mit ein paar unvorsichtigen Mäusen begnügen müssen. Ein Grund mehr, weshalb es mich zurück zum Rudel getrieben hat.«

Nia nickte verständnisvoll und versuchte dabei, ihre Enttäu-schung zu überspielen. Für einen kurzen Moment hatte sie insgeheim gehofft, Kimya würde sich entgegen aller Erwartungen als die Jägerin der erlegten Kuhantilope herausstellen. Solange sie ihre Jungen abseits des Rudels versorgt hatte, war sie darauf angewiesen gewesen, eigenständig Beute zu machen, um sich selbst und ihren Nachwuchs ausreichend zu versorgen. Natürlich war es einer einzelnen Löwin aber selten vergönnt, ein größeres Tier zu erlegen, da behielt Ardhi Recht.

»Wieso fragst du?«, wollte Kimya wissen.

Nia legte sich ihre Worte sorgfältig zurecht, ehe sie antwortete. Sie wollte die junge Mutter, die ohnehin derzeit schreckhafter und argwöhnischer wirkte, als Nia es von ihr kannte, nicht zusätzlich verunsichern, indem sie ihr etwas von einem möglichen unbekannten Jäger erzählte, der sich innerhalb der Grenzen des Reviers umhertrieb. Auf der anderen Seite war etwas Vorsicht zur Zeit sicherlich nicht all zu verkehrt. Aber Nia hatte sich vorgenommen, ihre Gedanken vorerst für sich zu behalten, solange sie nicht von mehr wusste, was auf eine reale Gefahr hindeuten mochte.

»Reine, unverbesserliche Neugier, schätze ich«, sprach sie zögerlich. »Immerhin blüht mir ein solches Schicksal ja vielleicht auch irgendwann einmal.«

Die Löwin wagte nicht abzuschätzen, ob Kimya ihren Worten und ihrem aufgesetzten kecken Grinsen, das überhaupt nicht typisch war für die zurückgezogene, schüchterne Nia, Glauben schenkte. Doch was daraufhin folgte, ging weit über alles hinaus, was sie erwartet hatte.

Kimya, die nur Augenblicke zuvor sorglos und von Herzen gelacht hatte, wirkte nun auf einmal angespannt, ja beinahe verstört. Sie schien gar nicht mehr zu bemerken, wie eines ihrer Jungen auffordernd an ihrem Hals kratzte. Mit einer routinierten Bewegung ihrer Vorderpfote zog sie es zu sich heran, ohne es anzusehen. Ihr Blick wirkte mit einem Mal leer und verlassen und Nia meinte in ihm einen deutlichen Anflug von Angst zu erkennen.

»An dem Tag, an dem ich zurück zum Rudel gekommen bin«, begann sie und atmete tief durch, um Kraft zu schöpfen. »Da... da habe ich etwas gehört. Einen Laut, halb Gebrüll, halb Schrei. Der Westwind hat ihn von weit her aus den Ebenen herbeigetragen. Es war seltsam und unheimlich. Auf die eine Weise wirkte es wie ein Echo aus alten Tagen, als Tazamaji mit seinem Brüllen noch unliebsame Besucher abgeschreckt hat, die dem Revier zu nahe kamen. Aber es steckte noch mehr darin... Wut und Schmerz... und ein Hauch von Verzweiflung.«

Kimyas Stimme klang nun sehr ernst, selbst die Jungen schienen das zu bemerken. Sie sprangen nicht länger umher, sondern drängten sich dicht an den warmen Leib ihrer Mutter.

»Eigentlich hatte ich vor, Samaha davon zu berichten. Aber je länger ich damit gewartet habe, desto alberner erschien es mir, sie mit etwas zu belästigen, was im Nachhinein betrachtet wie ein schlechter Traum wirkte. Vielleicht hat der Wind selbst mir nur einen üblen Streich gespielt? Und selbst wenn dieses Brüllen tatsächlich real war, dann wird sein Verursacher diese Lande vermutlich schon längst wieder verlassen haben. Oder was denkst du, Nia?«

Die Löwin sah Nia fragend an, aber Nia nahm sie bereits nicht mehr wahr, zu tief war sie in die Welt ihrer Gedanken abgetaucht. Der Schrei... Kimyas Beschreibung passte haargenau auf jenes unheilvolle Brüllen, das Nia in ihrer Vision vernommen hatte und das auch sie hatte erschaudern lassen. Bislang hatte sie dem Brüllen wenig Bedeutung beigemessen. Nun aber erkannte sie, dass es sich dabei um so etwas wie ein Schlüsselelement handeln musste, um den Kern der Botschaft, die man ihr hatte vermitteln wollen. Aber wenn dem wirklich so war, was sagte der Schrei dann aus? Bedeutete es etwa...

An Ort und Stelle sprang Nia auf und stieß sich augenblicklich den Schädel an der niedrigen und ausgesprochen harten Steindecke. Unbeirrt davon kroch sie aus dem Unterschlupf heraus und hinaus ins Freie.

»Ist alles in Ordnung mit dir? Hast du dich verletzt?«

Hinter sich vernahm Nia Kimyas besorgte Stimme. Ein wenig benommen blickte sie über die Schulter zurück und erkannte eine verstört wirkende Mutter zusammen mit ihren drei Jungen.

»Es geht mir gut. Ich muss nur unbedingt mit jemandem reden. Ich bin so schnell wie möglich zurück, versprochen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten sprang Nia über den Rand der Mulde hinweg. So schnell ihre Beine sie tragen konnten, rannte sie zwischen den aufragenden Felsen hindurch, bis hin zum Pfad, der sie auf das Plateau führen würde. Je schneller sie Ardhi fand, desto besser. Wenn sich Nias neue, besorgniserregende Vermutung als wahr herausstellte, so war das gesamte Rudel in großer Gefahr.

»Ich muss sie finden«, sprach Nia hinauf zu den Spitzen der Berge. »Sie ist die einzige, die mir zuhören und glauben wird. Bitte hilf mir. Bitte hilf uns allen!«

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt