Tote Augen tragen leere Blicke - Teil 3

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»Ich nehme an, du kennst dich hier, in unserem unfruchtbaren Reich, nicht sonderlich gut aus«, sprach der Fremde und zum ersten Mal ließ er, zu Nias großer Erleichterung, von ihr ab und ließ seinen Blick über das von Hügeln und Felsen dominierte Ödland schweifen.

»Ich kann dich führen. Die Wege und Pfade des Hochlandes sind tückisch und gefährlich. Aber ich kenne sie so gut wie kein anderer Löwe.«

In der Hoffnung, der Fremde würde sie ziehen lassen, nahm Nia ihren Mut zusammen und lehnte sein Angebot ab. »Ich danke dir. Aber ich denke, ich möchte lieber alleine gehen.«

Mit diesen Worten erhob sie sich und trat von der erlegten Gazelle und dem Fremden, der sie erneut ansah, zurück. Die Vorstellung, sich von ihm führen zu lassen, missfiel ihr deutlich. Sie hatte bereits viel zu viel Zeit in seiner Nähe verbracht.

Für einen kurzen Augenblick war ihr, als würde sie einen Anflug von Bedauern im Gesicht des Löwen ausmachen. Dann setzte er wieder sein unverfrorenes Grinsen auf.

»Ich verstehe. Meine Gegenwart scheint dir ja ziemlich zuzusetzen. Nun, für den Fall, dass du Durst verspürst: hinter dem Hügel dort hinten findest du eine kleine Quelle.« Er deutete mit der Schnauze zu einer der Anhöhen. »Ich hätte dir ja etwas gebracht, aber leider besitzt Wasser die unangenehme Eigenschaft, dass es sich nicht so leicht von Ort zu Ort tragen lässt wie eine Gazelle. Du wirst dich Wohl oder Übel selbst darum kümmern müssen.«

Nia nickte. Daraufhin erhob sich der Löwe und wandte sich zum Gehen.

»Nun gut, dann leb' wohl, Kleine. Ich wünsch' dir viel Erfolg bei der Suche nach deinen Verwandten. Sie werden sicher begeistert sein, dich zurückzuhaben.«

Mit diesen Worten kletterte er seitlich zurück auf den Felsvorsprung, von dem aus er Nia zuvor beobachtet hatte. Dort entschwand er aus ihrer Sicht.

In der Sorge, er könne zurückkehren, entschied Nia, keine Zeit zu verlieren. Sie wandte sich vom Felsvorsprung ab und der Landschaft zu, die sich vor ihren Pfoten ausbreitete. Von irgendwo dort unterhalb der sinkenden Sonne war sie gekommen, also musste es auch einen Weg zurück geben. Vielleicht gelang es ihr, den alten Bergpfad wiederzufinden, dieser würde sie direkt auf das Plateau führen. Ansonsten war sie gezwungen, auf die Gunst des Löwen des Berges zu vertrauen. Wenn er ihr gnädig gestimmt war, würde sich ihr der Weg von ganz alleine offenbaren.

Bitte gib mir die Kraft, meine Familie wiederzufinden. Ohne sie bin ich nichts weiter als ein Wolkenfetzen am leeren Himmel. Ehe ich weiß, was geschieht, löse ich mich auf und werde zu Nichts.

Sie hatte noch nicht viele Schritte zurückgelegt, immer der tiefstehenden Sonne entgegen, da meldete sich erneut das raue und trockene Gefühl in ihrem Hals. Instinktiv blickte Nia hinüber zu dem Hügel, hinter dem sich den Worten des Fremden zufolge die Wasserquelle verbergen sollte. Der Wind stand günstig und sie meinte, die Feuchtigkeit zu riechen, die von diesem Ort ausging. Etwas Zeit um zu trinken blieb ihr vermutlich noch. Vielleicht war das Wasser in der Lage, zumindest einen Teil ihrer Trauer und ihrer Sorgen hinfortzuspülen und ihr neue Kraft zu verleihen. Außerdem würde die Anhöhe eine Möglichkeit bieten, sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen.

Spontan änderte die Löwin ihre Richtung, nahm sich aber vor, wieder ihren ursprünglichen Weg einzuschlagen, sobald sie etwas getrunken hatte. Als sie den Hügel erklomm, machte sich der Schwindel wieder deutlicher bemerkbar und Nia musste mehrere Atempausen einlegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Oben angekommen, sah sie sofort den kleinen, plätschernden Bach, der zwischen den Felsen hervorkroch. Der Fremde hatte also nicht gelogen. Vom Fels gereinigt, wirkte das Wasser ungewohnt klar.

Als die Löwin den Kopf hob, konnte sie über das weite Land hinweg blicken. In der Ferne meinte sie einen Teil des Plateaus zu erkennen, den sie auch vom Bergpfad aus schon oft zu Gesicht bekommen hatte. Sicher war sie sich jedoch nicht. Von hier oben wirkte alles anders, die Bäume waren so klein, dass sie kaum zu erkennen waren, und so verschwamm das Land zu einer einzigen monotonen Fläche aus Grün- und Brauntönen unter dem hellblauen Himmel.

Als Nia vorsichtig zum Bach hinabstieg und ihre Pfote in das Wasser tauchte, bemerkte sie wie kühl es war. Es sprudelte direkt aus dem Erdreich hervor und schlängelte sich von hier aus vermutlich bis auf das Plateau hinab und von dort weiter auf die Ebenen, wo der Bach schließlich in einen der ausgewachsenen Flüsse mündete, die zu dieser Zeit des Jahres das Land durchzogen. Vielleicht war es klüger, dem Verlauf des Wassers zu folgen, anstatt wahllos zwischen den Felsen umherzuirren. Es war nicht auszuschließen, dass der Bach zu jenem Fluss auf dem Plateau führte, an dem Nia schon viele Nachmittage verbracht hatte.

Vorsichtig trat die Löwin auf die größeren Steine, die im Wasser verteilt lagen und tastete sich bis zu einer Stelle vor, die gut zum Trinken geeignet war. Dort ging sie in die Knie und nahm mehrere kräftige Schlucke. Sie spürte, wie das kühle Nass ihre Kehle hinunterlief. Es war das erste wohltuende Gefühl, das Nia seit ihrem Erwachen verspürte, ein Stück Normalität, das zu ihr zurückkehrte.

Die Löwin hatte gerade einen weiteren Schluck genommen, als ihr plötzlich ein Geruch in die Nase stieg, der sie innehalten ließ. Sofort hob sie den Kopf um sich umzusehen und zu lauschen. Es war ein übler Gestank, den der Wind mit sich trug. Und er bedeutete ganz gewiss nichts Gutes.

Als Nia erkannte, woher ihr dieser prägnante Geruch vertraut war, weiteten sich ihre Augen vor Schrecken. Mit einem Mal bereute sie, sich der Quelle genähert zu haben.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt