»Du hältst dich für klug, Weißer«, sprach Dhalimu, während er Mavunde abfällig musterte. »Warum bist du hierhergekommen? Du wusstest, dass du uns unterlegen bist. Du wusstest, dass wir dich töten werden. Und trotzdem bist du gekommen. Warum? Ist es wegen ihr?« Der massige Löwe deutete in Nias Richtung, jedoch ohne die Löwin dabei anzusehen. »Hattest du Angst, sie zu enttäuschen?«, spottete er. »Hast du ihr ein Versprechen gegeben, ihr Rudel vor uns zu beschützen?«
Mavunde antwortete nicht. Er blieb regungslos, den Vorderkörper gesenkt, um seinem Widersacher möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, den Blick starr auf Dhalimu gerichtet. Angst konnte Nia in seinen Augen nicht finden. Dafür meinte sie etwas anderes zu spüren. Eine gewisse Endgültigkeit. Als ob Mavunde bereits mit seinem Leben abgeschlossen hatte, jedoch gleichzeitig bereit war, es bis zum letzten Atemzug zu verteidigen.
Mit einem Mal überkamen Nia Schuldgefühle, wie sie sie noch nie zuvor verspürt hatte, als sie erkannte, dass Mavundes ausweglose Situation allein auf ihren Schultern lastete. Sie hatte ihn dazu gebracht, ohne seine Gefährten in einen hoffnungslosen Kampf gegen die Brüder zu ziehen. Wie hatte sie nur so eigensinnig handeln können? Sie hatte nur an das Wohl des Rudels gedacht, nicht einen einzigen Moment hatte sie sich das Opfer vor Augen geführt, das ihre Abmachung mit Dhalimu zur Folge hatte. Fassungslos starrte Nia den weißen Löwen an.
Verzeih mir, Mavunde. Ich war blind. Erst jetzt begreife ich, was ich von dir gefordert habe. Du hast eingewilligt, obwohl du wusstest, dass die Entscheidung dich dein Leben kosten würde.
»Oder war es etwa dein blinder Stolz, der dir zu kämpfen geboten hat?«, fuhr Dhalimu fort.
Während er und Mavunde sich Auge in Auge gegenüberstanden, hatte Bharid die Gunst der Stunde genutzt und den weißen Löwen mit einigem Abstand umrundet. Nia sah, wie er sich nun von hinterrücks näherte. Gemeinsam nahmen die beiden Brüder Mavunde in die Zange. Der weiße Löwe würde sich nicht auf zwei Seiten gleichzeitig zur Wehr setzen können.
»Mein Tod wird dich nicht retten«, entgegnete Mavunde mit einem Mal überraschend. Den Kontrahenten in seinem Rücken schien er bemerkt zu haben, doch sein Blick galt voll und ganz Dhalimu. »Es werden andere kommen, um dich aufzuhalten. Wie Sahib vor dir, wirst auch du dein Ende finden.«
»Wie du meinst«, entgegnete Dhalimu gleichgültig, während er seinen Oberkörper bereits zum Angriff senkte. »Das wird mir den Genuss des heutigen Tages aber in keiner Weise trüben.«
Wie ein perfekt eingespieltes Duo attackierten die Brüder im exakt gleichen Augenblick von beiden Seiten. Mavunde, der den Angriff erneut rechtzeitig erkannt hatte, blieb nur die Flucht zur Seite. Feiner Sand wirbelte auf, als der weiße Löwe sich mit seinen Hinterpfoten abstieß. Dhalimus Krallen verfehlten seine Flanke nur um Haaresbreite.
Schon im nächsten Moment bremste Mavunde seine Flucht ab. Einen Haken schlagend, wechselte er blitzschnell die Laufrichtung, eine Bewegung wie Nia sie bislang nur von Gazellen oder Antilopen kannte, nie zuvor hatte sie etwas Derartiges bei einem Löwen beobachtet. Mit einem Mal befand sich Mavunde im Rücken seiner beiden Widersacher... und nutzte die Gelegenheit. Mit einem kurzen Sprung erreichte er Dhalimu, der nicht schnell genug reagierte. Messerscharfe Krallen durchschnitten Fell, Haut und Fleisch. Der große Löwe brüllte auf, mehr vor Wut als vor Schmerz. Als er mit seiner schweren Pranke um sich schlug, hatte Mavunde sich bereits wieder von seinem Rücken gelöst und etwas Abstand gewonnen.
Dhalimus Brüllen nahm unnatürliche Züge an, bis es unerwartet in einem spöttischen Lachen endete.
»Das ist alles?«, spie der große Löwe mit dem Milchauge aus. Das Fell auf seinem Rücken hatte sich vom Blut dunkelrot gefärbt. »Du hast den größten Rudelführer aller Zeiten besiegt und nun gelingt es dir nicht, mir mehr als ein paar Kratzer zuzufügen?«
Nia sah, dass Mavunde schwer atmete. Der Angriff schien ihm ein gehöriges Maß an Kraft abverlangt zu haben. Allmählich kamen ihr deutliche Zweifel an seinem Plan, den Kampf in der offenen Sonne auszutragen. Es schien ganz so, als ob der weiße Löwe sich von den drei Kontrahenten am meisten verausgabte. Lange würde er nicht mehr durchhalten können.
»Ich habe Sahib nicht besiegt«, antwortete Mavunde zwischen seinen Atemzügen auf Dhalimus Frage, während die beiden Brüder sich ihm erneut mit schweren, gleichmäßigen Schritten näherten. »Er hat sich selbst besiegt. Er hat zugelassen, dass seine Gier und sein Blutdurst seinen Verstand vernebelten. Die Gaben, die Mutter Natur ihm zugeteilt hat, hat er leichtsinnig verspielt. Und nun sind sie für immer verloren.«
Ein hämisches Grinsen machte sich auf Dhalimus Zügen breit. Die Worte seines Feindes schienen den massigen Löwen zu amüsieren. Nia war sich nicht sicher, doch sie glaubte zu erkennen, dass Dhalimu etwas wusste, was er bisher nicht preisgegeben hatte. Etwas, was den Ausgang dieses Kampfes auf eine neue Stufe hob.
»Oh, du irrst dich, Weißer«, sprach er mit sichtlicher Genugtuung. »Das Blut Sahibs wurde weitergegeben. Seine Gaben sind nicht verloren, sie leben in seinem Nachkommen weiter.«
»Es gibt keine leiblichen Nachkommen Sahibs«, entgegnete Mavunde abweisend. »Er war nach seinem Wandel nicht mehr in der Lage, Junge zu zeugen.«
»Danach nicht mehr, nein«, bestätigte Dhalimu kalt. »Aber du weißt, dass er vor seinem Wandel ein anderes Rudel besucht und dort eine Löwin kennengelernt hat.« Der stämmige Löwe hielt einen Augenblick inne, um Mavundes Reaktion abzuwarten. Als er sah, dass der weiße Löwe sich nicht regte, zeigte er ein ebenso gehässiges wie zufriedenes Grinsen. »Oder hat Allastair dir dieses kleine Detail etwa vorenthalten?«
Nia verstand nicht, worüber die beiden Löwen sprachen. Aber anhand von Mavundes Reaktion wurde ihr klar, dass Dhalimu soeben ein Geheimnis von bedeutender Tragweite enthüllte hatte. Tatsächlich schien Mavunde so perplex, dass er nicht einmal bemerkte, wie Bharid sich mit flachen und zunehmend schnelleren Schritten seiner rechten Flanke näherte.
»Vorsicht!« Nias Warnruf hallte über das Plateau. Aber Mavunde schien wie angewurzelt. Als er schließlich doch aus seiner Starre aufschreckte, blieb ihm gerade noch genug Zeit, sich von Dhalimu abzuwenden und dem Angreifer auf seiner Flanke in die Augen zu sehen. Die Gelegenheit zum Ausweichen war jedoch längst vorübergezogen.
Weniger als einen Herzschlag später prallten die beiden Löwen mit der Wucht einer Steinlawine aufeinander. Der Aufprall riss Mavunde von den Beinen und schleuderte ihn rücklings zu Boden. Den Schwung seines Angriffs nutzend, fiel Bharid über seinen Kontrahenten her und zielte auf dessen Kehle. Gemeinsam wirbelten die beiden Löwen über den trockenen Boden. Nia musste mitansehen, wie scharfe Krallen Fell und Haut aufrissen, während schwere Pranken nach dem Kopf des jeweiligen Widersachers schlugen. Alles ging so schnell, dass Nia keine Gelegenheit zum Eingreifen erhielt. Hätte sie es getan, hätte es vermutlich ihr Ende bedeutet, denn den unkontrollierten Schlägen der beiden Widersacher wohnte die Kraft inne, einem Zebra das Genick zu brechen.
Nur wenige Momente nach dem Aufprall kam die Auseinandersetzung plötzlich zum Erliegen. Aus den aufwirbelnden Sand- und Staubmengen erhob sich nur ein einzelner Löwe. Der Kampf war entschieden.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...