Unter dem fahlen Schimmer der letzten Sonnenstrahlen erreichte die kleine Gruppe von Löwen den Gebirgsbach. Hier hatte Angavu Nia vor den Hyänen gerettet, bevor sie ihm in sein Versteck gefolgt war. Die Löwin erinnerte sich noch gut an den üblen Geruch der Tiere, deren Fängen sie nur knapp entkommen war. Auch jetzt schien der faulige Gestank wieder in der Luft zu liegen.
»Wir können hier nicht rasten«, wandte sich Angavu an Mavunde, während die anderen die Gelegenheit nutzten und aus dem leise plätschernden Bach tranken. »Es ist zu gefährlich.«
Nia beobachtete Mavunde aus dem Augenwinkel. Der lange Marsch war ihm nicht anzusehen, er wirkte noch immer so kräftig und ausgeruht wie bei ihrer Begegnung im Tal. Ganz anders Ajali und Jawabu. Die beiden Löwen lagen am Bachufer, den Moment der Erholung sichtbar auskostend, während ihre Bäuche sich bei jedem ausgedehnten Atemzug hoben und wieder senkten.
Auch Nia spürte, wie der Aufstieg an ihren Kräften zerrte. Ihre Pfoten schmerzten und sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein wenig Schlaf. All das schien Mavunde in seine Überlegungen miteinzubeziehen, während er unter Angavus eindringlichem Blick eine Entscheidung traf.
»Wir haben nicht viel davon, das Plateau zu erreichen, wenn niemand von uns in der Lage ist auch nur eine Pfote zu heben«, sprach der Löwe in weisem Tonfall. »Der Schlaf wird uns gut tun. Da ich aber genau wie du kein unnötiges Risiko eingehen möchte, schlage ich vor, dass zu jedem Zeitpunkt zumindest einer von uns Wache hält. Ich werde beginnen.«
Missmutig schnaubend wandte Angavu sich ab. Er verheimlichte nicht, was er von Mavundes Entschluss hielt, doch er verzichtete auf weiteren Protest. Als er grimmigen Blickes an Nia vorüberschritt, versuchte diese ihn zum Bleiben zu bewegen. Doch er ignorierte ihre Geste und folgte stur seinem Pfad quer durch den Bach, wobei seine Pfoten das Wasser aufwirbelten. Schließlich ließ er sich in einiger Entfernung zum Rest der Gruppe nahe einiger größerer dunkelgrauer Steine nieder.
Der Anblick stimmte Nia traurig. Es war, als ob der Löwe, mit dem sie die zufriedenen und weitestgehend sorgenfreien Tage im Tal verbracht hatte, aufgehört hatte zu existieren. Seitdem sie das Tal verlassen hatten, hatten die beiden kein Wort mehr miteinander gewechselt. Angavu schien ihr ihren Entschluss, den Fremden zu helfen, nach wie vor übel zu nehmen, auch wenn mittlerweile klar war, dass Mavunde und die beiden anderen ihnen niemals ihr Revier hatten streitig machen wollen. Sie hoffte, dass sich Angavus Verhalten ändern würde, sobald die Brüder besiegt waren. Dass er ihr würde verzeihen können.
Nachdem Nia ihren Durst gestillt hatte, ließ sie sich ein Stück weit bachauf nieder, wo auch Ajali und Jawabu einen Platz gefunden hatten. Dort lag sie halbwegs geschützt und hatte gleichzeitig die Möglichkeit, Angavu im Auge zu behalten. Sie wollte mitbekommen, wenn er vorhatte, die Gruppe zu verlassen.
Mavunde saß einige Schritte entfernt und spähte hinab auf den Teil des Plateaus, der von ihrer Position aus bereits auszumachen war. Nia war sich sicher, dass der weiße Löwe aus dieser Entfernung im dämmernden Zwielicht nicht viel erkennen konnte, vielleicht ein paar Baumgruppen oder Teile einer Herde, aber ganz bestimmt keine Löwen. Und doch schien Mavunde dem Anblick ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zu schenken, als bereitete er sich innerlich auf den kommenden Tag vor. Da Nia ihn nie im Kampf erlebt hatte, wagte sie nicht abzuschätzen, ob er Dhalimu und seinem widerwärtigen Bruder tatsächlich gewachsen war. Doch er war nicht allein. Gemeinsam würden sich ihre Chancen vergrößern.
Nia wusste, dass Löwinnen sich für gewöhnlich nicht in die Auseinandersetzungen der Männchen einmischten. Aber wenn schon Ajali an Mavundes Seite stand, dann konnte auch sie ihn unterstützen. Ardhi hätte vermutlich alles unternommen, um sie von einem solchen Vorhaben abzubringen, aber das war Nia gleich. Die Gerechtigkeit forderte ihre Opfer. Außerdem bestand noch eine andere, wenn auch nur sehr geringe Hoffnung. Nia hoffte, dass Angavu, sobald die Zeit gekommen war, erkennen würde, dass seine Unterstützung von großem Wert sein konnte. Wenn er und Mavunde sich den Brüdern Seite an Seite gegenüberstellten.
Der Gedanke verlor sich, als Nia erneut die Bilder ihres letzten Traums in Erinnerung kamen. Sie hatte gesehen, wie Angavu in den schwarzen Abgrund hinabgestürzt war. Was, wenn Angavu die Auseinandersetzung nicht überleben würde? Würde sein Tod dann auf Nias Schultern lasten?
»Nia?« Die Stimme drang nur flüchtig an ihr Ohr, als hätte der Wind sie aus weiter Entfernung herbeigetragen. »Nia?«
Die Löwin sah sich um, Ajali und Jawabu schienen bereits von ihrer Erschöpfung übermannt worden zu sein. Es war zweifelsohne Mavunde, der zu ihr sprach. Sie erkannte seine klare Stimme. Doch als sie in seine Richtung sah, fiel ihr auf, dass er sie nicht ansah. Noch immer galt seine Aufmerksamkeit dem Plateau und den Hügeln und Anhöhen, die sich im Westen dahinter erhoben.
Sachte, um die anderen nicht zu wecken, erhob sich Nia. Jawabu ließ ein behagliches Schmatzen erklingen, während Nia vorsichtig über ihn hinwegschritt. Durch das niedrige Gras trat sie an Mavunde heran, der sich nun leicht zu ihr gedreht hatte und sie mit einem Lächeln empfing.
»Verzeih mir, dass ich dich von deiner wohlverdienten Ruhe abbringe«, sprach er, gerade leise genug, um die anderen nicht zu stören. »Ich wollte etwas mit dir besprechen. Unter vier Augen.«
Nia nickte und ließ sich neben dem weißen Löwen nieder. Ihr war bewusst, dass Angavu sie in diesem Augenblick vermutlich haargenau beobachtete, doch das störte sie nicht. Sie wollte hören, was Mavunde ihr zu sagen hatte.
»Ajali hat mir von ihrem Gespräch mit dir berichtet«, sprach der Löwe. »Sie sagte, du hättest ihr etwas von einer Warnung erzählt, einer Vision vom Erscheinen der Brüder und dem Tod deiner Freundinnen. Ist das wahr?«
Nia wusste nicht, was sie sagen sollte. Nachdem sie Ajalis Reaktion auf ihre Gedanken erlebt hatte, war sie verunsichert. Nun, da Mavunde sie direkt darauf ansprach, regte sich in ihr die Sorge, dass auch er ähnlich reagieren könnte.
»Ich habe etwas gesehen, ja«, antwortete sie aufrichtig. »Während der Jagd, am Tag vor dem Angriff der Brüder. Ich wusste, dass etwas Schlimmes bevorstand, dass unser Rudel in Gefahr war. Aber ich war nicht in der Lage, es abzuwenden.«
Mavunde nickte nachdenklich. Er schien Nias Worten tatsächlich Bedeutung beizumessen.
»Weißt du etwas darüber?«, hakte Nia nach, während sich ein Hoffnungsschimmer in ihr regte. Vielleicht würde Mavunde ihr die Antworten geben können, nach denen sie sich sehnte. »Kannst du erklären, was geschehen ist?«
»Nein, das kann ich nicht«, entgegnete Mavunde und Nia spürte, wie der junge Hoffnungsschimmer im Keim erstickt wurde. Wenn nicht einmal der weise Mavunde ihr eine Antwort auf ihre Fragen zu geben vermochte, dann konnte es niemand.
»Alles, was ich dir geben kann, sind Mutmaßungen«, erklärte er. »Entsprungen aus dem wirren Kopf eines Löwen, der in seinem Leben zu viel gesehen hat, das er und andere für unerklärlich hielten. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, dass unser Geist uns nur einen kleinen Anteil von dem preisgibt, was unsere Sinne tagtäglich wahrnehmen. Und selbst dieser kleine Teil erfährt nicht selten deutlichen Einfluss durch unser Denken. Wenn du nur fest genug von einer Sache überzeugt bist, dann gelingt es dir auch, in allem was du siehst Anzeichen und Hinweise auf sie zu erkennen.«
Mittels eines Blickes vergewisserte sich Mavunde, dass Nia seinen Gedankengängen folgen konnte.
»Ich will damit nicht sagen, dass du dir all das nur eingebildet hast«, fuhr er fort. »Ich will sagen, dass du möglicherweise falsche Schlüsse über die Herkunft deiner Gedanken gezogen hast.
Du bist eine ausgesprochen aufmerksame Löwin, Nia. Das habe ich bereits bemerkt, als ich dich zum ersten Mal im Tal gesehen habe. Du hast aus dem Verhalten der Tiere um dich herum eine Fülle an Wissen über deine Umgebung gewonnen. Auf diese Weise hast du mich letztendlich auch gefunden, indem du dich auf die Neugier der Paviane verlassen hast. Ich bin mir sicher, dass dies nicht die einzige Situation war, in der dir etwas aufgefallen ist, was den meisten anderen entgangen wäre.«

DU LIEST GERADE
Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...