Zweiter Fluchtversuch - Teil 1

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Starren Blickes sah Imani den Hang hinab auf das Plateau. Das rötliche Sonnenlicht war zwischen den Wolken hervorgebrochen und tauchte das Land nun in seinen morgendlichen Schein. Zum ersten Mal seit langer Zeit fiel der Löwin auf, wie schön dieser Ort war, wie viel Leben in ihm steckte. Seit sie denken konnte, hatte Imani das Plateau nie verlassen. Auch ihre Mutter und deren Mutter hatten hier gelebt, am Fuße der Berge von Milima Kubwa. Nie hatte sie damit gerechnet, dass sie sich einmal gezwungen sehen würde, diesen Ort, den sie ihre Heimat nannte, zu verlassen. Der Schwermut, der sie bei diesem Anblick traf, wurde erst erträglich im Angesicht der Hoffnung auf Sicherheit und ein neues Leben fernab von hier. Die Löwinnen würden das Übel, welches sie ereilt hatte, hinter sich lassen und sich einer neuen, aussichtsreicheren Zukunft zuwenden. Doch dazu galt es zunächst, den Klauen der Brüder zu entkommen, die die Löwinnen bis jetzt fest in ihrem Griff gehalten hatten.

»Immer noch kein Anzeichen von ihr«, stellte Nadhari besorgt fest. Die junge Löwin hielt ebenfalls Ausschau, nur ein paar Schritte von Imani entfernt. Ihre Stimme verriet, was sie nicht aussprach. Sie hatte wenig Hoffnung, dass Samaha noch auftauchen würde.

Bei ihrem Treffen am vorigen Tag hatten die Löwinnen sich darauf geeinigt, dass sie sich vor Sonnenaufgang hier am Bergpass sammeln würden, um gemeinsam den Pfad hinauf in das Vorgebirge zu nehmen. Dort, so hofften sie, würden sie den Fängen der Löwen entkommen, die das Rudel zerschlagen hatten und nun auch nach ihren Leben trachteten. Samahas Bericht vom Gespräch der beiden Brüder hatte genügt, um die anderen Löwinnen zu überzeugen. Doch nun war es ausgerechnet sie, die nicht zur vereinbarten Zeit erschienen war. Imani konnte nur Vermutungen darüber anstellen, was die Löwin aufgehalten hatte. Weder sie noch eine der anderen Gefährtinnen hatte sie seit ihrem Gespräch am Vortag noch einmal zu Gesicht bekommen.

»Worauf warten wir noch?«, drängte Kimya auffordernd. Die junge Mutter hatte ihre Jungen dicht um sich versammelt. Damit sie auf dem Pfad schneller vorankommen würden, hatten die Löwinnen zugesichert, dass sie die Kleinen gemeinsam tragen würden. So war die Last besser verteilt.

»Wir warten auf Samaha«, erklärte Imani geruhsam, da sie bereits spürte, dass die Stimmung angesichts ihrer verzwickten Lage gereizt war.

»Vergesst sie, sie wird nicht mehr kommen«, entgegnete Kimya spürbar unruhig. »Mit jedem Augenblick den wir zögern, setzen wir unsere Leben mehr und mehr aufs Spiel. Ich weiß nicht, was mit Samaha geschehen ist, aber es wird einen guten Grund für ihr Verschwinden geben. Wenn die Brüder sich ihrer angenommen haben, ist es sowieso zu spät für sie. Wir können ihr nicht mehr helfen.«

Imani antwortete nicht, stattdessen hielt sie weiter Ausschau. Doch sie spürte Wut in sich aufsteigen. Die Wut galt nicht Kimya, sondern vielmehr Samaha selbst. Wie konnte sie ihre Schwestern dermaßen im Stich lassen, nach all dem, was sie zuvor für das Rudel getan hatte?

»Imani, ich rede mit dir!« Kimya wirkte zunehmend aufgebrachter. Niemand konnte ihr ihr Verhalten Übel nehmen, denn immerhin ging es für sie um mehr als ihr eigenes Überleben. Sie sorgte sich allen voran um das Leben ihrer drei Jungen, die ohne ihren Schutz hilflos waren.

»Wir warten«, antwortete Imani knapp. Eine Antwort, die die junge Mutter ganz offensichtlich nicht akzeptieren wollte.

»Wie kannst du das einfach alleine entscheiden? Unsere Leben stehen auch auf dem Spiel, nicht nur dein eigenes, vergiss das nicht! Du und deine Schwester, ihr habt Samaha von uns allen am schärfsten für ihre Methoden angegriffen. Also tu nicht so, als ob sie dir mehr wert wäre als uns!«

»Sei still!«, fuhr Imani die junge Mutter an, die augenblicklich erschrocken zurückwich. »Und erwähn' nicht noch einmal meine Schwester, sonst reiß ich dir den Kopf aus und leg ihn den Brüdern vor die Pfoten.«

Für einen Moment ließ die Drohung Kimya verstummen. Auch die anderen beiden Löwinnen wirkten angesichts des rauen Tonfalls erschrocken. Lediglich die Junglöwen ließen sich nicht beeindrucken, da sie zu sehr im Spiel mit einander beschäftigt waren.

»Samaha ist tot«, sprach Kimya mit finsterer Miene. »Sieh' es endlich ein. Sie haben sie umgebracht, so wie sie Ardhi und Falsafa ermordet haben. Es hat keinen Zweck, auf sie zu warten. Sie...« Kimya blieb das Wort im Hals stecken. Ihr schien mit einem Mal etwas aufgefallen zu sein, was den anderen bislang entgangen war.

»Da!«, rief sie und deutete den Hang hinab in südwestliche Richtung. »Da, am Fluss. Das ist sie!«

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt