In dieser Nacht waren die Träume, die Nia heimsuchten, noch seltsamer und verstörender als in den Nächten zuvor. Verschwommene, ferne Eindrücke standen im ständigen Wechselspiel mit unwirklichen Gefühlen, die schleichend über die Löwin herfielen. Im Traum rannte sie erneut über die kargen Felsen des Vorgebirges auf der Flucht vor dem Fremden, der ihre Freundin ermordet hatte. Doch dieses Mal war es tiefe Nacht und die Sterne bewegten sich über den finsteren Himmel, wobei sie leuchtende Linien hinter sich herzogen.
Verzweifelt und erschöpft erreichte die Löwin schließlich die Öffnung eines Höhlengangs, der tief hinab ins Herz des Berges führte, wo einem die Schwärze mehr als nur die Sicht rauben konnte. Direkt über dem Eingang, auf einem Felsvorsprung, lag ein Löwe. Als Nia zu ihm aufsah, erschrak sie. Seine Augen waren gespenstisch weiß und trüb und doch wirkte es, als musterten sie jede noch so kleine Bewegung der Löwin.
»Was macht eine junge Löwin ganz allein hier im Nirgendwo?«, fragte er und seine Worte hallten auf unnatürliche Weise aus dem Nichts wieder. »Wo ist dein Rudel? Hast du dich verlaufen?«
Nia trat zurück und der Löwe ließ ein schauerliches Lachen erklingen, während seine Gesichtszüge sich zu einem abnormal breiten Grinsen verzogen und lange Reihen messerscharfer Zähne entblößten.
»Was ist los mit dir?«, fragte er keifend. »Bist du stumm? Wenn ich dir etwas hätte antun wollen, hätte ich es doch schon längst getan.«
Der Löwe lachte heiser und seine Milchaugen begannen im Sternenlicht zu glühen.
»Ich hätte es schon längst getan, glaub mir«, wiederholte er, mit sichtlicher Genugtuung.
Nia hatte nicht einmal Zeit, dem fremden Löwen zu antworten, da erklang plötzlich aus der Tiefe ein donnerndes Gurgeln, als wäre die Höhle selbst zum Leben erwacht. Ein fürchterlicher Gestank nach Fäulnis und Verwesung stieg aus dem tiefen Schlund herauf und ließ Nia vor Übelkeit schwanken.
»Du musst wieder zu Kräften kommen«, kommentierte der Geisterlöwe auf dem Felsen Nias Reaktion und sein Grinsen verlor nichts von seiner abscheulichen Intensität.
»Wenn die Dunkelheit sich ausbreitet, kommen die Hyänen aus ihren Löchern gekrochen. Dann möchtest du nicht mehr hier sein.«
Wie auf Befehl und begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm brach mit einem Mal ein gigantischer Schwarm schwarzer Fliegen aus der Höhlenöffnung hervor und hüllte Nia in einem Sturm aus surrenden Körpern ein, die über die Löwin herfielen wie Geier über einen Kadaver. Vor Panik schreiend schlug sie wild um sich. Als das nicht half, schmiss sie sich auf den Boden und warf ihre Vorderpfoten schützend über ihre Augen und Ohren. Die unzähligen Flügelschläge schwollen zu einem einzigen brachialen Dröhnen an, Fliegen bedeckten ihr Fell und zerrten an ihrer Haut. Sie krochen zwischen ihren Pfotenballen hindurch und in ihre Ohren und ihre Schnauze.
Dann war es plötzlich still.
Panisch fuhr Nia hoch. Ihr Herz hämmerte wie besessen von innen gegen ihren Brustkorb, während sie keuchend nach Luft rang. Sie lag im Höhleneingang, dort wo sie sich zum Schlafen niedergelassen hatte. Es war noch immer tiefste Nacht und von ihrem Platz aus konnte sie zahlreiche Sterne erkennen, die ruhig und friedlich an ihren gewohnten Positionen am Himmel funkelten.
Als nach einigen Augenblicken des Verharrens nichts Ungewöhnliches zu hören oder zu sehen war, legte die Löwin ihren Kopf wieder ab und atmete tief durch.
Der Traum war ihr so intensiv und real erschienen, dass es ihr nun schwerfiel, sich gänzlich aus seinen Klauen zu befreien. Hatte das, was sie gesehen und gefühlt hatte, einen tieferen Sinn? Handelte es sich um eine neue Warnung? Eine Warnung wovor? Nias Gedanken versanken ein ums andere Mal in einem undurchdringlichen Gewirr aus Fragen.
Sie war noch dabei, über das gerade Geträumte nachzudenken, als sie plötzlich etwas bemerkte. Eine langsame, beinahe gleitende Bewegung, völlig geräuschlos. Als Nia ihre Augen in dieser mondlosen Nacht anstrengte, meinte sie einen Schatten ausmachen zu können, der sich zwischen Sträuchern und Steinen hindurch Schritt für Schritt dem Höhleneingang näherte. Sie hielt den Atem an.
»Angavu?«, hauchte sie vorsichtig in die Nacht hinein. Sofort blieb der Schatten regungslos an Ort und Stelle stehen. »Bist du es?«
Keine Reaktion.
Warum sollte Angavu mitten in der Nacht hier herumschleichen? Irgendetwas sagte Nia, dass es sich bei dem Schatten ganz sicher nicht um ihren Begleiter handelte, obwohl sie keinen anderen Geruch auszumachen vermochte.
Nachdem die Löwin einige Augenblicke still und regungslos verharrt hatte, setzte sich das fremde Wesen wieder in Bewegung. Mit jedem Schritt, den es zurücklegte, kam es dem Höhleneingang ein Stück näher. Mittlerweile konnte Nia eine Silhouette erkennen. Es schien sich bei dem Schatten tatsächlich um einen männlichen Löwen zu handeln. Die Erkenntnis allein genügte, um das Blut in Nias Adern gefrieren zu lassen.
War der Fremde, der Nia und Ardhi gejagt hatte, etwa erschienen, um sein blutiges Werk zu vollenden?
Die Löwin kauerte sich zusammen, den Rücken gegen die kalte Felswand gepresst, in der innigen Hoffnung, der Fremde würde sie vielleicht übersehen. Doch zu ihrem Schrecken schien er sich geradewegs auf sie zuzubewegen.
Im nächsten Moment stand er bereits vor der Höhle, aufgerichtet zu seiner vollen Größe. Gegen das Sternenlicht konnte Nia seine Umrisse erkennen, doch sein Gesicht blieb im Verborgenen. Sie hörte ihn leise atmen, während er an sie herantrat, bedrohlich eine seiner Pfoten hebend, als würde er im nächsten Augenblick zuschlagen wollen. Gelähmt von der Furcht, die sie ergriffen hatte, schloss Nia die Augen und rollte sich fest zusammen. Sie wartete nur darauf, einen stechenden Schmerz zu spüren, herumgewirbelt zu werden und direkt hier, auf dem Felsboden zu verbluten. Doch nichts davon geschah.
Als Nia die Augen wieder öffnete und zögerlich aufsah, war der Fremde verschwunden. Dort, wo er soeben noch gestanden hatte, befanden sich nun nur noch Gras und Stein. Nia zwang sich aufzustehen, dann trat sie vorsichtig aus der Höhle hinaus ins Freie, fest damit rechnend, dass der Fremde Besucher sie im nächsten Augenblick aus irgendeinem Versteck heraus attackieren würde. Doch es war weit und breit niemand auszumachen. Der Schatten war wie vom Erdboden verschluckt.
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Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...