Sehnsucht - Teil 1

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Der Sonnenuntergang war beeindruckend schön. In all ihren Jahren hatte Samaha ihn nie so intensiv erlebt wie an diesem Abend. Kräftiges, sattes Rot erhellte den Himmel im Westen und ließ die Wolken glühen. Ein Anblick, der selbst einer alten Löwin noch immer den Atem rauben konnte.

Samaha lag auf der Spitze jenes schmalen Felsens, auf dem noch am heutigen Morgen Dhalimu gethront und seinen grimmigen Blick über das Land hatte schweifen lassen. Von hier aus hatte er Samaha und ihre Schwestern überwacht und sich auf die Ankunft des weißen Löwen vorbereitet. Dass es letztendlich nicht der weiße Löwe, sondern sein eigener Bruder sein könnte, der sein Schicksal besiegeln würde, war ihm dabei vermutlich nie in den Sinn gekommen. Dhalimu war sich seiner Sache durch und durch sicher gewesen. Die Macht der Vernunft, die seinen Bruder letztendlich dazu bewogen hatte, sich von ihm und seinem Vernichtungswahn abzuwenden, hatte er deutlich unterschätzt. Und nun war sein Körper nicht mehr als Futter für die Geier.

Während Samaha die Ereignisse dieses ungewöhnlichen Tages noch einmal Revue passieren ließ, den Blick immerzu auf den leuchtenden Horizont jenseits der Ebenen gerichtet, bemerkte sie, dass sich ihr jemand näherte. Ein rascher Blick über die Schulter verriet ihr, dass es sich bei diesem jemand um Imani handelte. Die Löwin war zwischen den Felsen hervorgetreten und spähte nun zu Samaha hinauf, die einige Schritt weit über ihr lag. Ein neckisches Schmunzeln zeichnete sich auf ihren Zügen ab.

»Das Klettern scheinst du ja noch nicht verlernt zu haben«, sprach sie.

Samaha winkte unbeeindruckt ab.

»Wenn Dhalimu und der alte Tazamaji es geschafft haben, ihre massigen Körper jeden Tag hier hinaufzuschleppen, dann schaffe ich es auch mit drei Pfoten.«

Ansich hatte Samaha Dhalimus brutale Attacke gut überstanden. Die zahlreichen Prellungen und Blutergüsse verliehen ihr zwar die Optik einer wandelnden Leiche, doch sie behinderten sie nur geringfügig. Mit etwas Ruhe und Zeit würden diese Spuren der Auseinandersetzung wieder verschwinden.

Einzig und allein ihre Vorderpfote machte der Löwin sehr zu schaffen. Es war ihr nach wie vor unmöglich, sie zu belasten, weshalb Samaha sie stets angewinkelt am Körper hielt und das Gewicht mit ihrer zweiten Vorderpfote ausglich. Obwohl sie wusste, dass die Zeit viele Wunden heilen konnte, war sie sich beinahe sicher, dass diese Einschränkung sie bis zu ihrem Tod verfolgen würde. Die Tage ihrer erfolgreichen Jagden waren somit gezählt. Das war Dhalimus Vermächtnis an sie.

Seltsamerweise traf sie dieser Schicksalsschlag weitaus weniger hart, als sie es angenommen hätte. Tatsächlich konnte sie froh sein, dass sie überhaupt noch am Leben war, so oft wie sie dem Tod in den vergangenen Tagen in seine eisigen, leeren Augen geblickt hatte. Alles in allem hatte das Schicksal es gut mit ihr gemeint. Ihre größte Sorge bestand nun darin, dass der Verlust ihrer Jagdfähigkeit die Existenz des Rudels gefährden könnte. Doch sie glaubte daran, dass die neuen Erfahrungen, die die Löwinnen gesammelt hatten, ihnen die Kraft verleihen konnten, die nahende Trockenzeit zu überstehen, auch ohne Samahas Hilfe.

»Wie geht es den anderen?«, wollte Samaha wissen. Sie hatte mitbekommen, dass Imani nach ihnen gesehen hatte.

»Den Umständen entsprechend gut würde ich sagen«, entgegnete ihre Gefährtin, während sie sich einen bequemen Platz im Gras am Fuß des Felsens suchte. »Die Neue erholt sich schneller, als ich es ihr zugetraut hatte, Nadhari und ich mussten sie regelrecht zur Ruhe zwingen. So jung und lebendig waren wir beide auch einmal.«

»Und Kimya?«

»...ist wieder auf den Beinen. Sie wirkt deutlich gelassener, jetzt wo sie die Brüder nicht mehr in ihrer unmittelbaren Umgebung weiß.«

»Das ist gut.«

Von allen Löwinnen des Rudels hatte Kimya am meisten unter der Tyrannei der Brüder gelitten. Die Angst um ihre Jungen hatte der jungen Mutter stark zugesetzt. Samaha hoffte inständig, dass die vergangenen Tage keine bleibenden Spuren an ihr hinterlassen würden. Denn das Durchbringen der Jungen durch die Trockenzeit würde sie noch einiges an Kraft kosten, so viel war gewiss.

»Was ist mit Nia?«, fragte Imani schließlich.

Irritiert sah Samaha ihre Freundin an. »Ich dachte, sie wäre bei dir gewesen.«

Imani legte den Kopf schief. »Nein, ich habe sie nicht mehr gesehen, seit der Weiße uns verlassen hat.«

Ein ungutes Gefühl machte sich in Samahas Magengegend breit. Nias Verhalten war schon immer schwierig zu erahnen gewesen. Sie hoffte nur, dass die junge Löwin nicht auf dumme Ideen kam.

Auf ihre eine, gesunde Vorderpfote gestützt erhob Samaha sich. »Wir sollten sie suchen gehen.«

Noch während sie mit einiger Mühe den Felsen hinabstieg, überkam Samaha eine böse Vorahnung, die sie augenblicklich zur Eile antrieb.

»Hörst du, Nia... stell nichts Dummes an«, sprach sie mehr zu sich selbst als zu Imani.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt