Eine Frage der Überzeugung - Teil 2

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Irritiert darüber, Nia hier, abseits der Schlafplätze, vorzufinden, hob Ardhi den Blick. Die junge Löwin lag nur ein paar Schritte voraus im grünen Gras. Ihre Brust hebte und senkte sich deutlich sichtbar, als habe sie soeben erst eine längere Strecke im Dauerlauf hinter sich gebracht.

»Nia, was tust du denn hier? Du solltest doch bei Kimya sein! Ist etwas passiert?«

Nias Antwort erklang schnell und überhastet. »Ja! Ich meine... nein, nicht direkt. Aber es könnte etwas passieren! Und zwar schneller, als wir denken!«

Rasch warf Ardhi einen Blick über die Schulter zurück. Über das Gras hinweg konnte sie die anderen Löwinnen noch immer problemlos ausmachen. Nach den Ereignissen des vergangenen Tages konnte sie sich nur zu gut vorstellen, was los sein würde, wenn einige von ihnen bemerkten, dass Nia ihrer Pflicht die kalte Schulter gezeigt hatte. Zum Glück schienen die Jägerinnen momentan zu erschöpft, um etwas von Nias Auftauchen zu bemerken.

»Kimya hat von einem Schrei erzählt, einem unbekannten Brüllen aus der Ferne!« Nias Worte überschlugen sich förmlich. Die junge Löwin war noch völlig außer Atmen. »Vor ein paar Tagen hat sie es gehört, am Rand des Reviers. Wer oder was auch immer dieses Brüllen ausgestoßen hat, es könnte längst unter uns sein! Vielleicht hat dieses fremde Wesen die Antilope getötet und gefressen!«

»Nia, komm erst einmal zur Ruhe«, sprach Ardhi beschwichtigend. »Ich weiß, dass das alles sehr rätselhaft und furchteinflößend wirkt, besonders für dich. Aber du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Ich habe gestern mit Samaha gesprochen und sie hat mir erzählt, dass es auf dem Plateau früher Leoparden gegeben hat. Es ist denkbar, dass einer von ihnen zurückgekehrt ist. Sie haben sich uns Löwen niemals genähert, deshalb besteht kein Grund zur Besorgnis.«

»Es ist kein Leopard!«, protestierte Nia, lauter als zuvor.

Besorgt sah Ardhi sich nach den anderen Löwinnen um. Einige von ihnen hatten die Köpfe gereckt und sahen nun in ihre Richtung. Nia konnten sie jedoch nicht ausmachen, da diese noch immer geduckt im dichten Gras lag.

»Hörst du mir zu, Ardhi?«, sprach Nia, um die Aufmerksamkeit ihrer Tante wieder auf sich zu lenken. »Ich habe auch gezweifelt. Ich dachte, ich würde mir alles bloß einbilden. Dass meine Fantasie mit mir durchgeht. Aber das tut sie nicht. Kimya hat den Schrei auch gehört und er hat ihr ebenso viel Angst gemacht wie mir. Die Eindrücke, die ich nach dem Sturz hatte, das waren nicht bloß leere Erscheinungen. Es war eine Warnung!«

»Eine Warnung, so?« Skeptisch verzog Ardhi ihre Miene. »Haben dir das deine Regenwürmer erzählt? Von wem soll diese Warnung denn stammen?«

Nia spannte ihren ganzen Körper an und grub ihre Krallen in den Erdboden. Das tat sie nur, wenn sie bereits ahnte, dass das, was sie im Folgenden vorhatte von sich zu geben, auf massiven Widerstand stoßen würde.

»Die Warnung kommt vom Löwen der Berges.«

Anstatt sich in irgendeiner Form beeindruckt oder überrascht zu geben, seufzte Ardhi lediglich.

»Ich dachte mit dem Thema wären wir durch. Nia, der Löwe des Berges ist ein Märchen, eine Geschichte. Es gibt ihn nicht wirklich.«

Nia blieb unbeirrt. Mit einem Mal schien es ihr egal zu sein, ob die anderen Löwinnen sie bemerkten oder nicht. Sie sprang an Ort und Stelle auf und sah Ardhi mit durchdringendem Blick an.

»Du hast selbst einmal gesagt, dass du an ihn glaubst, erinnerst du dich nicht?«

»Du warst noch ein Kind, ich wollte dir deine Träume nicht nehmen. Hätte ich geahnt, dass du dich so sehr an diesem Hirngespinst festklammern würdest, wäre ich nie auf die Idee gekommen, soetwas zu sagen.«

Ganz offensichtlich wollte Nia nichts von Ardhis Klarstellung wissen. Sie trat einen Schritt zurück und schüttelte störrisch den Kopf.

»Es ist mir egal, was du sagst. Ich weiß, dass es ihn gibt. Und er hat zu mir gesprochen, um uns vor einer Gefahr zu bewahren, die unsere Vorstellungskraft bei Weitem übersteigt.«

»Was ist bloß los heute?«, seufzte Ardhi. »Erst Samaha und nun auch noch du. Bin ich denn nur noch von Sturköpfen umgeben?«

»Bitte, du musst mir glauben!«, flehte Nia.

»Nun hör endlich auf mit diesem Unsinn und kommt wieder zur Vernunft! Wenn du in diesem Rudel akzeptiert werden möchtest, musst du dich auch wie eine erwachsene Löwin benehmen!«

»Aber wenn es doch wahr ist! Ich -«

»Gute Güte, du bist genauso stur, wie deine Mutter es war!« Ardhi sah ihre Nichte mit einem durchdringenden Blick an. Doch das, was sie erkannte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Nias Augen verrieten mehr als nur Wut. Ardhis Worte schienen sie hart getroffen zu haben. Sofort bereute die Löwin, dass sie Nias Mutter erwähnt hatte.

»Es tut mir Leid, Nia«, erklärte sie mit einfühlsamer Stimme und trat auf ihre Freundin zu. Aber Nia wich augenblicklich zurück und wandte den Blick ab. Dann, ehe Ardhi noch etwas hinzufügen konnte, lief sie davon, weg von der Gruppe der Löwinnen und hinaus auf das Plateau.

Ardhi sah ihr hinterher und fühlte ihr Herz sinken. Seit dem Tod ihrer Schwester hatte sie Nia immer zur Seite gestanden, jeden Tag. Es schien, als ob diese Tage bald der Vergangenheit angehören würden. Je älter Nia wurde, desto mehr entfernte sie sich von ihr und den anderen Löwinnen und desto weniger konnte Ardhi für sie tun. Sie musste lernen, für sich selbst zu sorgen, ansonsten drohte ihr eine ungewisse Zukunft.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt