Nia war mehr als angespannt. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wie die Brüder auf ihre Worte reagieren würden. Kannten sie Mavunde? Wussten sie, von wem Nia sprach? Und falls dem so war: würde Dhalimu sich von Nias Worten beeindrucken lassen oder war ihm das Geschwätz einer dahergelaufenen Löwin gleichgültig?
Nias Angst und Zweifel saßen tief, sie zerfraßen die Löwin von innen heraus wie ein Parasit. Es war nicht nur die Angst um ihr eigenes Leben, sondern auch um die Leben ihrer Freundinnen, die sie nach all den Tagen abseits des Plateaus nun endlich wiedersah.
All ihre Ängste wurden jedoch in den Schatten gestellt von dem unaussprechlichen Gefühl, das Nia ereilt hatte, als sie Angavu erblickt hatte. Ihn hier, auf der Seite der Brüder wiederzufinden, erfüllte sie mit brennendem Schmerz. Tief in ihrem Herzen hatte sie gewusst, dass Mavunde sich nicht getäuscht hatte, dass Angavu nicht derjenige war, der er vorgab zu sein. Nun erkannte sie, dass die Wahrheit sogar noch weitaus vernichtender war, als sie es jemals für möglich gehalten hatte. Angavu war einer von ihnen. Er war eines jener Monster, die Nias Rudel zerschlagen und ihre Freundinnen getötet hatten. Seit ihrer ersten Begegnung hatte er Nia belogen und hintergangen.
Und trotzdem... da war noch immer dieser Funken Hoffnung, den Nia verspürte. Die Hoffnung, dass all dies sich letztendlich nur als ein einziges großes Missverständnis herausstellen würde. Doch dieser Funken schwand von Augenblick zu Augenblick.
»Der weiße Löwe?«, fragte Dhalimu, dem es nicht sonderlich gut gelang, sein Interesse zu überspielen. »Was weißt du über ihn?«
Nia nahm all ihren Mut zusammen und wählte jedes Wort mit äußerstem Bedacht und in dem Wissen, dass nur eine einzige falsche Bemerkung entsetzliche Folgen haben konnte. Niemals Schwäche zeigen, vergegenwärtigte sie sich noch einmal Ardhis weise Worte. Dann fiel ihr Blick erneut auf den kleinen Jungen, der noch immer verzweifelt und unter kläglichem Wimmern versuchte, sich aus Dhalimus Griff zu befreien.
»Lass den Jungen frei«, wiederholte Nia ihre Forderung. »Dann erzähle ich dir alles, was du wissen willst.«
Dhalimu schien das Angebot ernsthaft abzuwägen. Nia war sich nicht gänzlich sicher, aber es beschlich sie das Gefühl, dass die Erwähnung des weißen Löwen einen wunden Punkt in ihm getroffen hatte. Wenn dem so war, bestand vielleicht die Hoffnung auf eine Einigung. Offenbar schien Dhalimu jedoch nicht auszuschließen, dass Nia bluffte. Gerade wirkte es so, als habe er eine Entscheidung getroffen, da mischte Angavu sich plötzlich in das Geschehen ein.
»Bruder«, sprach er an Dhalimu gewandt und die Worte ließen das Blut in Nias Adern förmlich gefrieren. »Hör nicht auf sie. Alles, was sie dir über den weißen Löwen berichten kann, kann auch ich dir sagen. Wir beide waren zusammen mit ihm unterwegs. Unsere Wege haben sich erst heute Nacht getrennt.«
Nia spürte Angavus Blick auf sich lasten, doch sie wagte es nicht, ihm in die Augen zu sehen. Das war nicht der Löwe, den sie kennengelernt hatte. Der Angavu, der sie gerettet hatte, der bei ihr gewesen war und sie beschützt hatte, diesen Löwen hatte sie für immer im Tal zurückgelassen. Allein die Tatsache, dass er diese abscheuliche Bestie als seinen Bruder bezeichnete, begrub jede Form der Sympathie, die sie jemals für ihn empfunden hatte.
»Sieh an«, sprach Dhalimu und sein heiles Auge betrachtete Nia mit einer abscheulichen Mischung aus Genugtuung und Gier. »Glaubst du, sie ist dem weißen Löwen etwas wert?«
»Ich denke schon«, entgegnete Angavu knapp.
»Wird er hierher kommen und sie holen?«
Angavu dachte einen Augenblick über Dhalimus Frage nach, ehe er antwortete.
»Davon bin ich überzeugt.«
»Sehr gut.« Der massige Löwe wandte sich an Bharid. »Sie ist der ideale Köder für unser Vorhaben. Bring sie mir.«
»Wartet!«, rief Nia und Bharid, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, um die Felsen am Rand des Pfads hinaufzuklettern, hielt inne und sah sie mit mörderischem Blick an.
»Wenn ihr euch dem weißen Löwen stellen wollt, kann ich euch helfen. Ich weiß, wo er sich aufhält und kann ihn hierher bringen. Im Gegenzug verlange ich nur, dass ihr in der Zwischenzeit keiner meiner Schwestern und keinem ihrer Jungen etwas antut.«
»Nia«, vernahm die Löwin Samahas warnende Stimme vom Pfad unter ihr. »Ich weiß nicht, wer dieser weiße Löwe ist, noch was dich mit ihm verbindet. Aber du kannst diesen Mördern nicht trauen. Du weißt nicht, was sie vorhaben.«
Obwohl Nia einräumen musste, dass Samaha keinesfalls Unrecht hatte, ignorierte sie die Worte der älteren Löwin. Sie wollte den Brüdern keinen Grund geben, anzunehmen, dass sie an ihrem eigenen Vorschlag zweifelte. Ihr blieb ohnehin keine Wahl. Wenn sie ihre Freunde schützen wollte, musste sie mit dem arbeiten, was ihr zur Verfügung stand.
»Ich nehme dein Angebot an«, sprach Dhalimu. Seine Züge verrieten, dass er sich selbst als Sieger der Auseinandersetzung sah. »Ich gebe dir Zeit bis zum Mittag. Wenn der weiße Löwe sich uns nicht gestellt hat, ehe die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hat, töte ich die Jungen und ihre Mutter und jeden anderen, der sich mir in den Weg stellt.«
Nia schluckte. Die Verantwortung, die sie sich soeben selbst auferlegt hatte, erdrückte sie förmlich. Doch nun war es zu spät, sich abzuwenden. Mit einem Nicken willigte sie ein. Dann bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie Imani zwischen den Löwinnen hervortrat.
»Gebt uns den Jungen zurück!«, forderte sie die Brüder energisch auf.
Doch Dhalimu schien nicht daran zu denken, seine Geisel freizugeben.
»Das war nicht Teil der Abmachung«, entgegnete er mit einem abscheulichen Grinsen, von dem Nia überzeugt war, dass es sie von nun an in ihren schlimmsten Alpträumen verfolgen würde.
»Du hast zugestimmt, niemandem von uns Leid zuzufügen«, erinnerte Imani ihn an seine Worte. »Das gilt auch für den Jungen.«
»Oh, keine Sorge, ich werde ihm nichts antun«, antwortete Dhalimu. Dann sah er Nia direkt in die Augen, als wollte er sie noch einmal deutlich an ihr Versprechen erinnern. »Jedenfalls nicht vor Mittag.«
Mit diesen Worten packte er das Junge mit den Zähnen am Nacken, hob es hoch und wandte sich von den Löwinnen ab. Er folgte dem Pfad hinab auf das Plateau. Die anderen beiden Männchen blieben zurück, vermutlich um sicherzustellen, dass die Löwinnen ihre Flucht aufgaben und auf das Plateau zurückkehrten.
Es kostete sie einiges an Überwindung, doch schließlich wagte Nia einen Blick auf Angavu, den sie so falsch eingeschätzt hatte. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und Nia erstarrte. Da, wo sie zuvor Mitgefühl und Zuneigung erblickt hatte, sah sie nun nichts mehr als blanken Hass. Nia wollte schreien vor Verzweiflung. Stattdessen riss sie sich fort von ihm und wandte sich so schnell sie konnte ab. Sie sprang hinab von dem Felsen, der ihr Sicherheit geboten hatte und lief den gewundenen Pfad hinauf, der sie zurück in das Vorgebirge führte. Die anderen Löwinnen ließ sie zurück, denn in diesem Augenblick war sie nicht in der Lage, ihnen gegenüberzutreten. Sie sah nur noch Angavus hasserfüllten Blick, der sich in ihren Gedanken festgesetzt hatte. Sie wollte weg von diesem Ort, weit weg. Allen voran aber musste sie Mavunde finden, wo auch immer er sich nun befand. Sie betete, dass er sich nicht bereits vom Plateau abgewandt hatte. Würde er noch immer bereit sein, sich den Brüdern zu stellen? Durch Angavus Verrat hatte sich alles geändert.
Als Nia aufblickte, erkannte sie mit Schrecken, dass die Sonne sich bereits aus ihrer morgendlichen Röte emporgehoben hatte. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr. Selbst wenn sie sich im höchsten Maße beeilte, war es fragwürdig, ob sie es bis zum Mittag zurück auf das Plateau schaffte. Würde sie Mavunde nicht dort vorfinden, wo sich ihre Wege getrennt hatten, war es aus. Zeit für die Suche nach dem weißen Löwen hatte sie nicht.
Erst jetzt wurde Nia klar, wie entsetzlich dumm ihre Abmachung mit Dhalimu gewesen war. Sie hätte mehr Zeit heraushandeln müssen. Doch dazu war es nun zu spät. Nun blieb ihr nicht viel mehr, als ihre Schritte zu beschleunigen und auf ein Wunder zu hoffen.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...