Das Tal - Teil 1

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Als Nia Angavu am Morgen ihre nächtliche Begegnung schilderte, wirkte dieser wenig überzeugt. Er lag einige Schritt weit entfernt mit dem Rücken im ausgedörrten Gras und ließ seinen Bauch von der Morgensonne wärmen. Nia hingegen hatte den gesamten Bereich vor der Höhle und den Höhleneingang nach Hinweisen auf den fremden Besucher abgesucht, jedoch ohne Erfolg. Der Boden war zu fest und das Gras zu spärlich verteilt, als dass irgendjemand hier hätte Spuren hinterlassen können.

»Meinst du nicht, du hast dir das Ganze nur eingebildet?«, fragte Angavu gelassen. »Vielleicht war es bloß ein Traum?«

»Nein«, entgegnete Nia beharrlich. »Das war es nicht.«

Von dem Alptraum, der sie in der Nacht aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte sie Angavu nichts erzählt und hatte auch nicht vor, es zu tun. Dafür war sie sich noch zu unschlüssig, was die Bedeutung des Traumes anging. Außerdem hatte sie Sorge, Angavu würde genauso reagieren, wie er es getan hatte, als sie den Löwen des Berges erwähnt hatte.

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, hakte Angavu wenig verständnisvoll nach. »Vielleicht hast du ja bloß geträumt, dass du aufgewacht bist und tatsächlich hast du die ganze Nacht durch-geschlafen.«

Die Wahrheit war, dass Nia, nachdem sie den Fremden nirgendwo hatte finden können, für eine ganze Weile kein Auge mehr zu bekommen hatte. Erst als die Dämmerung bereits angebrochen war, hatte der Schlaf sie schließlich niedergerungen.

Als Angavu erkannte, dass seine Worte bei Nia auf wenig fruchtbaren Boden stießen, versuchte er es mit einer anderen Frage.

»Und du bist dir sicher, dass es ein Löwe war?«

Nia nickte.

»Ja, ein ausgewachsener männlicher Löwe. Ich habe die Mähne ganz genau gesehen, so wie ich jetzt dich sehe.«

»Hm«, machte Angavu. Offenbar hatte er den Gedanken, dass eine neugierige Hyäne sich bei Nacht vorsichtig dem Unterschlupf genähert haben mochte, nicht für völlig abwegig gehalten. Die Vermutung, dass ein anderer Löwe in der Gegend sein Unwesen trieb, schien ihn nicht zu überzeugen.

»Wollte er dich angreifen?«

»Es sah so aus, als ob er es vorhatte«, erklärte Nia. »Aber irgendetwas schien ihn davon abgehalten zu haben. Ich kann mir allerdings nicht erklären, was es gewesen sein könnte.«

»Vielleicht hat er etwas gehört oder gesehen«, mutmaßte Angavu. »Oder er hat dich mit jemandem verwechselt und seinen Irrtum erst bemerkt, als er direkt vor dir stand.«

»Möglich.«

Nachdenklich starrte Nia hinauf ins Sonnenlicht. Der Gedanke, dass sie vielleicht niemals erfahren würde, wer oder was sie in dieser Nacht aufgesucht hatte, quälte sie schon jetzt. Mehr noch als das wer war es das warum. Hatte sich einer der beiden Fremden tatsächlich den gesamten Weg vom Plateau hier herauf begeben, nur um dann festzustellen, dass Nia die Mühe eigentlich nicht wert war? Nein, so wichtig war sie diesen Mördern mit Sicherheit nicht. Sie musste sich damit abfinden, dass es im Moment keine Antwort auf ihre Fragen zu finden gab.

Während sie noch nachdachte, rollte sich Angavu mit einem Ruck im Gras herum und richtete den Vorderkörper auf. Seine langen Reißzähne traten hervor, während er ausführlich gähnte. Dann sah er Nia mit einem schelmischen Lächeln an.

»Das ganze wäre jedenfalls nicht passiert, wenn du einfach mit zu mir in die Höhle gekommen wärst. Ich gebe zu, dass es da unten nicht sonderlich einladend aussieht, aber mit ein wenig Fantasie wird aus kargen Wänden und modernden Knochen ganz schnell ein kleines, bescheidenes Königreich. Und an Fantasie scheint es dir ja nicht zu mangeln.«

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt