Gerade sah es so aus, als würde Bharid zuschlagen, da geschah plötzlich etwas Unerwartetes. Eines der Jungen, das kleine Männchen, löste sich aus seiner Starre und ergriff die Flucht. Allerdings trieb es den Jungen in seiner Panik nicht den Pfad hinauf, sondern in die entgegengesetzte Richtung, direkt auf die Brüder zu. Samaha und die anderen Löwinnen konnten ihm nur tatenlos hinterhersehen. Anstatt zuzuschlagen versuchte Bharid nun den Jungen zu packen, doch der Kleine war für sein Alter bereits ausgesprochen flink. Bharids Pranken verfehlten ihr Ziel und landeten auf dem kahlen Untergrund, während der Junge weiter den Pfad hinab floh... bis er plötzlich von einer anderen Pfote gepackt wurde.
Der Junge miezte ängstlich, gefangen unter Dhalimus mächtiger Pranke, die den kleinen Rücken vollständig bedeckte. Doch so sehr er sich auch wandte und sich freizukämpfen versuchte, für den kräftigen Dhalimu war es ein Leichtes, ihn festzuhalten.
»Wag' es nicht, ihm etwas anzutun!«, fauchte Samaha, während Dhalimu das Junge betrachtete.
In der Zwischenzeit war es Nadhari gelungen, Imani zurück auf den Pfad zu zerren. Doch die beiden Löwinnen erkannten rasch, dass sie machtlos waren. Solange Dhalimu den Jungen in seiner Gewalt hatte, konnten sie keinen Angriff riskieren. Samaha sah hinüber zu Kimya, die immer noch benommen am Boden lag. Offenbar bekam die Löwin noch etwas von dem Geschehen mit, denn Samaha konnte erkennen, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Die bitteren Tränen einer Mutter, die befürchtete, dass sie eines ihrer Jungen für immer verlieren könnte.
Dhalimu selbst schien die Machtlosigkeit der Löwinnen auf eine perfide Art und Weise auszukosten. Es war der Fremde, der sich nun erstmals zu Wort meldete.
»Bruder«, sprach er und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Willst du das wirklich tun?«
Doch Dhalimu schien sich seiner Sache sicher zu sein.
»Als Oberhaupt dieses Rudels ist es mein Recht, über die Leben der Nachkommen meines Vorgängers zu gebieten«, verkündete er laut genug, dass es alle Anwesenden hören konnten.
Auch das Klagen des Jungen wurde lauter und Samaha verfluchte sich für ihre Unfähigkeit zu handeln.
»Warum sollte ich nicht von meinem Recht Gebrauch machen?«, fragte Dhalimu in die Runde. Die Antwort überraschte ihn sichtbar.
»Weil es dich nicht retten wird.«
Samaha fuhr herum und warf einen Blick den Pfad hinauf. Diese Stimme... sie war ihr nur all zu vertraut. Als sie erkannte, wer dort stand, traute sie ihren Augen kaum.
»Nia!«
Die junge Löwin stand auf einem der größeren Felsen am Wegesrand, ein gutes Dutzend Schritt weit von Samaha und den anderen Löwinnen entfernt. Ihr Fell glänzte in der morgendlichen Sonne und ihr Blick war starr auf Dhalimu gerichtet. Samaha bemerkte, dass die anderen Löwinnen ebenso erstaunt waren wie sie selbst. Niemand hatte damit gerechnet, die junge Löwin jemals wiederzusehen. Und nun erschien sie wie aus dem Nichts.
»Wer bist du? An dich kann ich mich nicht erinnern«, wandte sich Dhalimu an den Neuankömmling.
Nias Antwort erfolgte schnell und harsch. »Lass den Jungen frei, dann können wir reden.«
Irritiert sah Samaha ein weiteres Mal hinauf zu der jungen Löwin. Das war nicht die Nia, die sie kannte. Diese junge Löwin strotzte geradezu vor Selbstvertrauen. Obgleich Samaha bei näherem Hinsehen auffiel, dass ihre linke Vorderpfote leicht zitterte, ein Zeichen der Unsicherheit, das auch Dhalimu ganz sicher nicht entgangen war.
»Du bist wohl kaum in der Position, Bedingungen zu stellen«, sprach der Löwe mit einem kaltherzigen Grinsen. »Komm runter und füg' dich deinem Rudelführer, dann werde ich dich verschonen.«
Doch Nia machte keine Anstalten, ihre sichere Position zu verlassen.
»Du wirst nicht mehr lange Rudelführer bleiben«, entgegnete sie laut und deutlich.
»Hast du etwa vor, mich zu vertreiben?«, lachte Dhalimu.
Die Vorstellung trieb auch seinem Bruder ein herablassendes und gehässiges Grinsen ins Gesicht. Nur der Fremde blieb starr. Ausdruckslos sah er Nia an. Doch die Löwin wich seinem Blick aus und konzentrierte sich auf Dhalimu.
»Nicht ich«, verkündete sie und mit einem Mal verging den beiden Brüdern das Grinsen. »Sondern der weiße Löwe.«
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Savanne in der Abendkühle
FantasiaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...