Sehnsucht - Teil 3

42 4 1
                                    

Kaum mehr als einen Herzschlag, bevor die beiden Löwen zusammenstießen, änderte Bharid schlagartig seine Laufrichtung. Er stürmte an Angavu vorbei und entfernte sich mit schnellen Schritten den Flusslauf entlang.

Nia, die fest damit gerechnet hatte, dass Bharid seine Drohungen wahr machen würde, atmete erleichtert auf. Während sie sich langsam erhob, sah sie dem sich entfernenden Löwen hinterher. Ihre Beine schmerzten, dort wo Bharid seine Krallen zum Einsatz gebracht hatte, doch die Löwin war dankbar, am Leben zu sein.

»Feigling«, sprach sie, nicht ohne eine Spur von Verachtung. »Jetzt, wo er sich nicht mehr hinter seinem Bruder verstecken kann, traut er sich nicht mehr so viel.«

Als sie Angavus betrübtes Gesicht bemerkte, bereute Nia ihre Worte augenblicklich. Man sah ihm deutlich an, dass er nicht stolz war auf das, was er getan hatte.

»Ist es wahr, dass er dein Bruder ist?«, fragte sie sehr behutsam, um die Wunde nicht noch weiter aufzukratzen.

Angavus Blick verlor sich in der Leere. Von seinem durchnässten Fell tropfte Wasser auf den sandigen Boden, wo es sich in Pfützen sammelte. Für einen Moment wirkte es, als würde er der Frage ausweichen, doch dann schien er sich eines Besseren zu besinnen.

»Unsere Mutter hat uns zusammen ausgetragen, geboren und aufgezogen«, sprach er schließlich, wobei seine Stimme durch und durch aufrichtig klang. »Das macht uns zu Brüdern.«

»Wie kommt es, dass du nicht bei ihnen warst, als sie unser Rudel angegriffen haben?«

Angavu zögerte und wich Nias Blick aus.

»Angavu?«

Besorgt sah sie ihn an. Etwas schien auf seinen Schultern zu lasten, eine schwere Bürde. Es war mehr als nur der Tod seines Bruders.

Einige Augenblicke des Schweigens verstrichen, ehe Angavu sich schließlich überwand. Als er zu erzählen begann, vergaß Nia alles um sich herum und lauschte nur noch seinen Worten. Worte, die ihr eisige Schauer den Rücken hinab jagten.

»Du würdest mich nicht ansehen, wenn du wüsstest, was ich getan habe, Nia«, begann Angavu mit schwacher Stimme, den Blick vor Scham gesenkt. »Ich habe zahlreiche Löwinnen getötet und mit ihnen ihre Jungen. Wir haben sie gejagt wie Beutetiere, jede Form von Gnade war uns fremd. Für uns war es wie ein Spiel, eine Demonstration unserer Macht. Wo auch immer uns unser Pfad hinführte, dort haben wir Tod gesät.«

Er hielt einen Augenblick inne und starrte auf die Strömung, die allerlei Blätter und Gestrüpp den Fluss hinab trug.

»In der Regel war es Dhalimu, der uns vorantrieb. Er war schon immer der Größte und Kräftigste von uns, ein geborener Kämpfer. Kaum ein Löwe war ihm gewachsen und jene, die versucht haben, sich mit ihm zu messen, haben ihren Wagemut in der Regel mit ihrem Leben bezahlt. Ich dagegen bin kein Zweikämpfer, aber mein Bruder verstand es sehr gut, mich als Kundschafter und Späher einzusetzen. Ich war geschickt genug, mich den Blicken anderer zu entziehen.

Manchmal habe ich ein Rudel Tage lang beobachtet, bevor meine Brüder schließlich zur Tat geschritten sind. Dadurch konnte ich ihnen alles sagen, was sie wissen wollten. Ich wusste genauestens Bescheid über jedes einzelne Mitglied des Rudels. Ich fand heraus, wo die Weibchen ihre Jungen versteckten, wenn Gefahr drohte und welche Schwachpunkte die Rudelführer offenbarten. Ob sie den Mut hatten, sich im Kampf zu stellen oder ob sie fliehen würden, sobald sie unseren Silhouetten gegen die Sonne sahen. All diese Informationen waren für meinen Bruder von großem Wert und ich bin mir sicher, ohne sie wären ihm nicht halb so viele unschuldige Seelen zum Opfer gefallen.«

Ungläubig starrte Nia den Löwen vor ihr an. Wenn seine Worte der Wahrheit entsprachen, dann war er ein Mörder, ein Killer. In seiner Nähe befand sie sich in großer Gefahr. Aber jetzt davonzulaufen, erschien ihr nicht klug. Da sie nicht wusste, wie sie auf seine Worte reagieren sollte, ließ sie Angavu fortfahren.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt