Das erste, was Nia sah, als sie erwachte, war der dichte Nebel, der sich wie ein Schleier über den Wald gelegt hatte. Um sich herum konnte sie kaum mehr als ein paar Bäume ausmachen, dahinter verschwand alles im trüben Weiß.
»Ich träume noch immer«, flüsterte sie sich selbst zu, während sie sich erhob, den Schreck noch immer in den Gliedern. Ihr Blick fiel auf Angavu, der nur ein paar Schritt weit entfernt unter dem zugewucherten, halb umgestürzten Stamm einer Adamsfeige lag, genau dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Dem regelmäßigen Heben und Senken seines Brustkorbes nach schien er tief und fest zu schlafen. Die beiden hatten seit ihrem Streit um das getötete Warzenschwein kaum mehr als ein paar Worte gewechselt. Nachdem sie den Rest des vergangenen Tages weitestgehend getrennt voneinander verbracht hatten, hatten sie sich schließlich einen gemeinsamen Schlafplatz für die Nacht gesucht. Mittlerweile dämmerte es und die ersten Sonnenschimmer ließen den Nebel nur umso gespenstischer wirken.
Nachdem Nia sich auf alle vier Beine gekämpft hatte, trat sie vorsichtig unter dem Dickicht hervor, das ihr Schutz geboten hatte, darauf bedacht, Angavu nicht aufzuwecken. Der dichte Nebel weckte in ihr eine gewisse Faszination, die schnell dazu führte, dass sie die finsteren Geschehnisse ihres Traumes verdrängt hatte. Noch nie zuvor, weder auf dem Plateau noch sonst irgendwo, hatte sie die Landschaft jemals derart verschleiert vorgefunden. Es war beinahe, als hätte man ihre Augen unter Wasser getaucht. Unheimlich und beängstigend und doch wunderschön. Als sie sich nach ein paar Schritten umdrehte, um nach Angavu zu sehen, konnte sie den Löwen zwischen den Sträuchern bereits nicht mehr ausmachen. Wie verloren wandelte sie zwischen den Bäumen umher, als würde eine fremde Macht sie vorantreiben.
Aus den Baumkronen vernahm sie das Rascheln der Blätter, unterbrochen durch einzelne, schrille Schreie. Nia erkannte, dass es die Paviane waren, denen sie folgte. Ohne es zu bemerken, war sie ihren Lauten nachgeeilt, tief in den Wald hinein, der mit einem Mal ungewöhnlich fremdartig wirkte. Es war beinahe, als lockten die Tiere sie. Immer wieder stießen sie ihre auffordernden Schreie aus, bis Nia sie eingeholt hatte, dann sprangen sie weiter voran, von Ast zu Ast, wie Schatten im tiefen Nebel, ganz als legten sie es darauf an, dass die Löwin ihre Fährte aufnahm. Und das tat sie. Den Blick gehoben, die Ohren aufgestellt, hastete Nia immer schneller über den Waldboden, über Wurzeln und Stämme kletternd, immer den Lauten nach... bis sie plötzlich verstummten.
Mit einem Mal ist es entsetzlich still, wie schon am Tag zuvor, bevor Nia am See auf das junge Warzenschwein stieß. Rasch sieht sie sich um, in der festen Überzeugung, jeden Augenblick könne irgendwo ein Tier aus dem Dunst hervortreten. Und tatsächlich... es zeigt sich etwas.
Völlig lautlos gleitet das Wesen über den Boden hinweg. Kaum mehr als ein paar Schritt weit entfernt bleibt es stehen und doch hat Nia alle Mühe, seine Umrisse zu erkennen, da sein strahlend reines Fell beinahe nahtlos mit dem weißen Nebel verschwimmt. Nur seine Augen erscheinen Nia klarer als alles, was sie jemals zu Gesicht bekommen hat.
»Hallo Nia«, spricht der weiße Löwe. Der Klang seiner Stimme ist so deutlich, als würde er direkt in ihr Ohr sprechen.
Wie angewurzelt bleibt die Löwin stehen. Sie wagt nicht einmal zu blinzeln, aus Furcht, der Fremde könne an Ort und Stelle wieder mit dem Nebel verschmelzen und damit ihrer Sicht entschwinden.
Er sieht sie an und scheint zu verstehen.
»Du glaubst zu träumen«, stellt er nüchtern fest. »Lass mich dir versichern, dass du lange geträumt hast. Doch nun ist es für dich an der Zeit, zu erwachen. Ich bin gekommen, um dich aus dem Nebel der Ungewissheit zu führen.«
Ungläubig sieht Nia den Löwen an. Sie wagt es nicht, zurückzuweichen.
»Wer bist du?«, haucht sie.
Als hätte er auf ein Stichwort gewartet, tritt der Löwe gänzlich aus dem Nebel hervor. Und mit einem Mal wird Nia bewusst, wen sie vor sich hat. Seit ihrer frühesten Kindheit sehnt sie sich danach, den Löwen des Berges ein einziges Mal mit ihren eignen Augen erblicken zu dürfen, seinen Glanz zu bewundern und seine Weisheit zu spüren. Viel hat ihre Mutter ihr von seiner Anmut und wahrhaftigen Schönheit erzählt, aber erst in diesem Moment, da sie ihn in seiner vollen Pracht erlebt, kann sie es wirklich glauben. Sie hat ihn tatsächlich gefunden.
»Mein Name«, spricht er und sieht ihr unmittelbar in die Augen, »ist Mavunde.«
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Savanne in der Abendkühle
FantasiaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...