In der Abendkühle - Teil 1

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Der alte Bergweg fand seinen Anfang unweit der Schlafplätze des Rudels. Es handelte sich um kaum mehr als einen Trampelpfad, der, mal schmaler und mal breiter, in bogenförmigen Schwüngen hinauf ins Hochland verlief. Vermutlich war er früher von Gazellen oder anderen kleineren Antilopenarten zurecht getreten worden, die während der Trockenzeit im höher gelegenen Bergland nach Nahrung oder einer Wasserquelle gesucht hatten. Die Löwen mieden ihn für gewöhnlich, zum einen, da er über kürzere Stücke hinweg steil und unwegsam war, zum anderen, weil es weiter oben im Gebirge zwischen kantigen Felsen und nacktem Stein wenig gab, was einen Räuber der Savanne interessierte. War in der Vergangenheit die Beute auf dem Plateau knapp geworden, so hatte es die Löwinnen vielmehr hinaus auf die Ebenen gezogen. Tatsächlich wusste niemand aus dem Rudel, wohin der Pfad überhaupt führte und es kümmerte auch niemanden.

Gerade deshalb war es ungewöhnlich, dass eine einzelne Löwin am späten Abend dem Verlauf des Weges folgte. Zielstrebig kletterte sie voran, ein gutes Stück zwischen überwucherten Felsen und vereinzelten Sträuchern. Erst als sie einen bestimmten Abschnitt des Pfades erreicht hatte, verließ sie ihn und lief eine Weile am Hang entlang in südlicher Richtung, bis sie eine ebenere Fläche erreichte, die nur spärlich mit Büschen und Gräsern bewachsen war. Hier hielt sie inne und blickte hinab auf das Plateau, das nun weit unter ihr lag und über das sie problemlos hinwegsehen konnte. Weit voraus konnte sie hinter der kleineren Hügel- und Bergkette, die das Plateau im Westen abgrenzte, einen fahlen Schimmer erkennen. Das letzte Lebenszeichen der Sonne an diesem Tag.

Nia keuchte. Der rasche Aufstieg hatte sie viel Kraft gekostet, doch das war es wert gewesen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Zeugin dieses Anblicks wurde, aber es gelang ihm immer wieder aufs Neue, sie in ihren Bann zu ziehen.

Die Löwin trat hinüber zu einer Ansammlung von Steinen und Sträuchern, die mit hellen Blüten übersät waren. Dort legte sie die braunen, länglichen Früchte ab, die sie im Maul bis hierher getragen hatte, verneigte sich knapp und schloss die Augen.

»Es ist schön, wieder hier zu sein«, sprach sie, obwohl niemand außer ihr anwesend war, und sog den süßlichen Duft der Blüten ein. »Ich bin froh, dass du den Sturm heil überstanden hast. Auf dem Plateau habe ich ganze Bäume gesehen, die der Wind samt Wurzeln aus der Erde gerissen hat. Einen so kräftigen Orkan habe ich noch nicht erlebt. Es war furchteinflößend und gleichzeitig so fesselnd, dass man nicht weggucken konnte, selbst wenn man es wollte.«

Nia dachte zurück an die peitschenden Windböen, die zuckenden Blitze und den grollenden Donner.

»Du brauchst dir jedenfalls keine Sorgen zu machen, Ardhi und den anderen geht es gut. Mutter Natur war noch einmal gnädig zu uns, sie hat lediglich ihre Zähne gezeigt.«

Die Löwin öffnete die Augen und betrachtete die überwucherten Steine vor ihr, die sie schon so oft gesehen hatte, die sich über all die Zeit aber kaum verändert hatten. Dann, plötzlich, erinnerte sie sich an etwas. Mit der Schnauze deutete sie auf die braunen Früchte, die sie vor ihren Pfoten im Gras platziert hatte.

»Das sind Tamarinden, ich habe sie vorhin am Flussufer gefunden. Man kann sie essen, sofern man in der Lage ist, die harte Schale mit den Zähnen zu knacken. So haben es die Affen am Fluss gemacht, man konnte sie gut beobachten. Probier' es einfach mal! Sie schmecken ein wenig sauer, aber mir gefällt es.«

Die Löwin legte sich auf alle vier Pfoten und nahm eine der Tamarindenfrüchte seitlich zwischen die Zähne. Ein Knacken erklang, daraufhin fielen Stücke der zersplitterten Schale hinab ins Gras. Nia legte die Frucht wieder vor sich ab und sah triumphierend auf. »Siehst du? Es ist nicht schwierig.«

Sie schwieg eine Weile und das Gras und die Sterne schwiegen mit ihr. Von irgendwo auf dem Plateau drang das Kreischen eines Vogels heran. Dann war es wieder still.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt