Vorsichtig trat Nia vor und lugte zwischen die Sträucher. Die Stille bereitete ihr nun deutliches Unbehagen und sie wünschte sich, sie wäre nicht alleine hierher gekommen. Dann, schlagartig, erschrak die Löwin, als sich die Sträucher unmittelbar vor ihr zu bewegen begannen, keine zwei Schritt weit entfernt. Zunächst sprang sie zurück, bereit, augenblicklich das Weite zu suchen. Doch als das Rascheln wieder verstummte und nichts weiter geschah, begann die Furcht allmählich der Neugier Platz zu machen. Erst zögerlich, dann immer selbstbewusster trat Nia an die Farne zwischen den Bäumen heran. Bei allem, was sie in diesem Tal bislang zu Gesicht bekommen hatte, war ihr noch kein Tier begegnet, das für eine Löwin eine ernstzunehmende Gefahr bedeutet hätte. Welchen Grund hatte sie also, Angst zu haben?
Als sie nah genug war, hielt Nia den Atem an, hob eine ihrer Vorderpfoten und schob die Sträucher langsam beiseite. Was sie daraufhin vor sich auf dem Waldboden vorfand, erstaunte sie.
Dort, inmitten des Gestrüpps, stand ein kleines Tier, es reichte Nia nicht einmal bis zur Brust. Borstenartige Haare überdeckten die graue Haut des Tieres nur spärlich, seine Beine endeten in gespaltenen Hufen und an der Spitze seiner Schnauze saß etwas, das an einen zu kurz geratenen Elefantenrüssel erinnerte. Zu beiden Seiten der Schnauze konnte Nia die Ansätze von Zähnen erkennen, die später einmal zu wahren Hauern heranwachsen würden. Was die Löwin vor sich hatte war ein Schwein, ein Warzenschwein, und ihrer Schätzung nach konnte es höchstens ein paar Wochen alt sein.
Die angelegten Ohren und der eingezogene Schwanz des jungen Warzenschweins offenbarten Furcht und Unsicherheit. Es rührte sich nicht vom Fleck, als Nia ihm so dicht kam, dass ihre Schnauze es beinahe berührte.
»Hey, Kleines«, sprach sie vorsichtig und betrachtete das Tier von oben bis unten. Es wirkte unverletzt.
»Wo kommst du denn her? Und warum bist du ganz allein?«
Behutsam betastete Nia das Junge mit der Pfote. Sein Fell fühlte sie rau an. Wie als Reaktion grunzte das Warzenschwein und stolperte einige Schritte zurück, ohne Nia dabei aus den Augen zu lassen.
»Ist schon gut, ich werde dir nichts tun. Du kannst mir vertrauen. Komm her, ich bringe dich an einen sicheren Ort.«
Mit einem Winken deutete die Löwin dem Kleinen an, ihr zu folgen. Doch das Warzenschwein machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Stattdessen sah es Nia nur mit dem immer gleichen furchterfüllten Blick an.
»Was hast du denn?«
Während Nia das kleine, verängstigte Tier beäugte, fiel ihr plötzlich ein weiterer Laut auf, der sich über das Grunzen des Jungen gelegt hatte. Es handelte sich um ein tiefes, wütendes Schnauben. Dann ein Scharren, Erde wurde aufgewühlt. Als die Löwin zögerlich den Blick hob, sah sie direkt in die Augen eines ausgewachsenen Warzenschweins. Die massiven Hauer, länger als jeder von Nias Reißzähnen, ragten unter der flachen und breiten Schnauze des Tiers hervor. Die Ohren aufgestellt und mit einem seiner beinahe klauenartigen Hufe über den Boden scharrend, stieß es in schnellen, regelmäßigen Abständen seinen Atem aus, während es Nia mit dem bitterbösen Blick einer wutentbrannten Mutter anstarrte, bereit die Löwin in Stücke zu reißen.
Wie angewurzelt vor Schreck starrte Nia in die Augen des Warzenschweins. Schwarze Augen, in denen der Hass auf alles brannte, was dem Nachwuchs des Tiers zu nahe kam. Nia wusste, dass Warzenschweine für gewöhnlich panische Angst verspürten beim Anblick eines Löwen und beinahe immer augenblicklich reißaus nahmen; dass sie die Gejagten waren, die Beutetiere. Doch hier draußen, völlig auf sich allein gestellt, machte ihr dieser Gedanke wenig Mut.
»Keine Sorge«, sprach die Löwin beschwichtigend, während sie vorsichtig zurückwich, darauf bedacht, Gesten zu vermeiden, die das wütend schnaubende Tier falsch verstehen könnte. »Ich hatte nicht vor, deinem Jungen etwas anzutun.«
Nia hatte nicht den Eindruck, dass das Warzenschwein sie verstand. Sein Scharren wurde intensiver und es ließ die Löwin nicht einen Moment lang aus den Augen. Das Junge hatte sich derweil zwischen die schützenden Beine seiner Mutter zurückgezogen.
»Wenn du mich ziehen lässt, wird niemandem etwas zustoßen.«
Die Löwin vergrößerte allmählich ihre Schritte, blieb aber ausgesprochen achtsam. Nur keine schnellen Bewegungen... Sie sah, dass die Warzenschweinmutter zwar angespannt wirkte, sich jedoch bislang nicht vom Fleck rührte.
»So ist es gut, bleib einfach bei deinem Jungen.«
Ehe Nia sich versah, riss das Tier mit einem Mal seinen Kopf herum, als hätte es etwas vernommen. Nia folgte seinem Blick und erkannte mit Schrecken Angavu, der sich ihnen rasch näherte.
»Nia! Halte durch!«, rief er, während er sich durch das Gestrüpp vorankämpfte.
Nia spürte, wie die Unruhe des Warzenschweins anstieg. Sein Schnauben wurde hörbar lauter und es senkte seinen Kopf bedrohlich, um die unterbeinlangen Hauer zur Schau zu stellen.
»Warte!«, erwiderte Nia. Doch es war zu spät.
Mit einer Mischung aus tiefem Grunzen und gereiztem Quieken setzte das Warzenschwein sich in Bewegung, direkt auf den sich nähernden Angavu zuhaltend. Der Löwe wurde sich der Attacke rechtzeitig bewusst und warf sich augenblicklich im Laufen zur Seite. Die langen Hauer verfehlten ihn nur um Haaresbreite. Stattdessen verfingen sie sich im Gestrüpp und entrissen ganze Pflanzen samt ihrer Wurzeln dem Erdreich. Während das Tier noch dabei war, sich frei zu kämpfen, eilte Angavu bereits zu Nia und stellte sich schützend vor sie.
»Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?«
Hastig schüttelte Nia den Kopf.
»Mir geht es gut«, erklärte sie und ihre Worte überschlugen sich förmlich. »Angavu, hör mir zu!«
»Nicht jetzt!«
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Savanne in der Abendkühle
FantasiaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...