Zögerlich hob Angavu den Kopf, um seinem Bruder in die Augen zu sehen. Angst lag in seinem Blick, wie Nia mit Erstaunen feststellen musste. Niemals hatte sie erwartet, den mutigen und verschlagenen Angavu einmal vor etwas zurückschrecken zu sehen.
»Das kannst du nicht von mir verlangen«, hauchte Angavu, als würde er um Gnade flehen.
»Du musst eine Entscheidung treffen, Bruder«, sprach Dhalimu, den Angavus Unterwürfigkeit auf eine perfide Weise zu amüsieren schien. »Du kannst uns den Rücken zukehren und für alle Zeit vor uns fliehen, als unser Feind. Oder du beweist deine Loyalität und tötest den weißen Löwen und seine kleine, vorlaute Hure, die dumm genug war, ihn direkt in unsere Fänge zu führen. Ich lasse dir die Wahl.«
Nia erstarrte. Unsicher, wie Angavu sich angesichts dieser Worte entscheiden würde, sah sie ihn an. Und zum ersten Mal an diesem unglückseligen Tag erwiderte er ihren Blick. Sie starrte tief in seine unergründlichen Augen in der Hoffnung, sie würden ihr einen Hinweis auf irgendeine Art von innerem Konflikt geben. Ein Zeichen, dass er ihre gemeinsame Zeit und das Glück, das sie erfüllt hatte, nicht gänzlich vergessen hatte. Aber da war nichts. Überhaupt nichts. Weder Hass noch Zuneigung noch Mitleid. Nur endlose Leere.
In ihrem Traum hatte sie Angavu in den schwarzen Abrund stürzen sehen und hatte seitdem um sein Leben gefürchtet. Nun aber erkannte sie, dass die Schwärze ihn nicht nur verschlungen hatte, sie hatte ihn von innen heraus erfüllt. Unter der Last der ihm durch Dhalimu aufgezwungenen Entscheidung hatte Angavu sich selbst vergessen. Mit einem Mal war es ihm gleichgültig, was geschehen würde.
»Nun?«, hakte Dhalimu ungeduldig nach. »Wie lautet deine Entscheidung?«
Angavu antwortete nicht. Stattdessen sah er seinen Bruder für einen kurzen Augenblick an, ehe er sich Nia und dem allmählich zu sich kommenden Mavunde zuwandte. Bharid reagierte und trat zurück. Offenbar schien es ihm deutlich zu missfallen, dass er es nicht selbst war, dem die Ehre zukam, den Kampf zu Ende zu bringen. Doch unter Dhalimus eindringlichem Blick gehorchte er.
Als Angavu Nia beinahe erreicht hatte, hielt er noch einmal kurz inne. Apathisch starrten seine Augen in die Leere, wie die leeren Augenhöhlen des Schädels, den Nia in den Tiefen seiner Höhle gefunden hatte. Von dem Löwen, den sie im Gebirge kennengelernt hatte, war kaum mehr geblieben als eine leere Hülle.
»Angavu...«, flüsterte Nia schwach. Der Anblick trieb ihr Tränen in die Augen. »Warum tust du das?«
»Weil sie meine Brüder sind«, erklang Angavus leblose Stimme. »Wir müssen zusammenhalten, um zu überleben.«
Er war ihr nun so nahe, dass Nia seinen Atem spüren konnte. Sie sah seine langen Reißzähne, die perfekten Waffen eines Killers. Sie würden ein leichtes Spiel haben, ihre Kehle zu zerquetschen.
»Du bist nicht wie sie, Angavu. Du mordest nicht sinnlos. Du bist gütig und du kennst Mitleid. Hast du all das vergessen?«
Es hatte keinen Sinn, Angavu schien ihre Worte nicht zu hören. Er wollte sie nicht hören.
»Möchtest du deinen Löwen des Berges nicht um Hilfe bitten?«, fragte er anstatt ihr zu antworten. Es lag kein Hohn in seinen Worten.
»Nein«, entgegnete Nia knapp aber bestimmt.
Der Löwe wirkte irritiert. »Wieso nicht?« Fragend sah er sie an.
»Weil es keinen Löwen des Berges gibt«, entgegnete Nia knapp. »Es hat ihn niemals gegeben, er existiert nicht. Das weiß ich nun mit Sicherheit.«
Angavu schwieg. Nia rechnete fest damit, dass seine Pfote jeden Augenblick vorschnellen und ihrem Leben ein plötzliches Ende bereiten würde.
»Als wir uns begegnet sind, wirkte dein Glaube unerschütterlich. Du hast ihn vehement gegen meine Worte verteidigt. Und nun behauptest du, du hättest dich eines Besseren besonnen? Was hat dich dazu gebracht? Was ist geschehen?«
Unter all der Trauer, Angst und Verzweiflung, die Nia in diesem Augenblick verspürte, gelang es ihr entgegen jeglicher Logik, ein sanftes Lächeln aufzusetzen.
»Du, Angavu. Du bist geschehen.«

DU LIEST GERADE
Savanne in der Abendkühle
FantasiaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...