Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als sie die Höhle erreichten, von der der fremde Löwe erzählt hatte. Sie befand sich am Fuß eines großen Felsmassivs, das Nia bereits aus einiger Entfernung erspäht hatte. Dort, zwischen einigen kantigen Steinen unterschiedlicher Größe, die vermutlich aus dem Fels herausgebrochen waren, führte ein schmaler, schlitzförmiger Gang hinab ins dunkle Erdreich, gerade breit genug für einen ausgewachsenen Löwen.
»Weiter unten ist es ein wenig komfortabler«, sprach der Fremde, der zu erkennen schien, dass der Anblick Nia nicht gerade in Begeisterung versetzte.
Zögerlich trat Nia bis an den Höhleneingang heran und spähte argwöhnisch in die Tiefe. Der Fremde hatte ihr unterwegs versichert, dass die Höhle unbewohnt war. Er selbst hatte sie, nach seiner Aussage, schon mehrfach als Unterschlupf während der Nacht genutzt. Hyänen waren hier nie aufgetaucht.
Auf ihrem Weg hatte Nia keine Laute mehr vernommen, die auf die Nähe der nachtaktiven Räuber und Aasfresser hätten schließen lassen. Auch gerochen hatte sie nichts Auffälliges mehr. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Gefahr aus der Welt war. Der Fremde hatte ihr gesagt, dass die Hyänen umso eifriger umherstreunten, je schwärzer die Nacht wurde, weshalb Nia ihrem Plan treu geblieben war, die Nacht im Hochland zu verbringen. Jetzt allerdings, als sie hinab in die tiefe Leere unter dem Fels blickte, überkamen sie Zweifel, ob die Höhle tatsächlich ein so sicherer Ort wahr, wie der Löwe es versprochen hatte.
»Es ist so dunkel«, stellt sie ruhelos fest.
Der Fremde zeigte ein verständnisvolles Lächeln.
»Deine Augen werden sich an die Dunkelheit gewöhnen. Warst du noch nie in einer Höhle?«
Tatsächlich hatte Nia in ihrem Leben nie eine richtige Höhle betreten, geschweige denn eine Nacht in ihr verbracht.
»Nein«, entgegnete sie. »Jedenfalls nicht in so einer.«
Die Löwin dachte an die Mulde, in der Kimya ihre Jungen pflegte. Zwar verlief sie auch bis unter den Stein, aber dort war das Licht problemlos hineingedrungen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich da hinein will.«
»Du kannst natürlich auch hier draußen bleiben, ich will dich nicht davon abhalten. Aber hier werden dich die Hyänen problemlos sehen.«
Es fiel Nia nicht leicht, abzuschätzen, vor was sie sich mehr fürchtete: vor der Höhle oder den Hyänen. Letztere waren natürlich eine sehr viel realere Bedrohung. Nia wandte sich an den Fremden.
»Du sagtest, die Hyänen kämen nie hierher?«
Die Mähne des Löwen schüttelte sich, während er lachte.
»Nein, das habe ich nie behauptet. Ich sagte, dass ich bisher nichts davon mitbekommen habe, dass jemals eine Hyäne ihre Pfote in diese Höhle gesetzt hätte. Dass sie nicht nachts hier draußen herumschleichen, kann ich dir nicht versprechen.«
Nia verstand. Und sie hatte bereits eine Entscheidung gefasst.
»Ich werde am Höhleneingang bleiben.«
Es erschien ihr als die einleuchtendste Lösung. Auf diese Weise würde sie sich rasch in die Höhle zurückziehen können, falls tatsächlich Hyänen oder andere gefährliche Tiere in der Nacht auftauchten, gleichzeitig konnte sie die Höhle aber auch mit wenigen Schritte rasch hinter sich lassen und würde nicht in ihr gefangen sein. Insbesondere aber, und das verschwieg sie, hatte der Fremde keine Gelegenheit, sie in der Dunkelheit festzuhalten.
Der Löwe schien ihre Entscheidung mit Widerwillen zu akzeptieren. Zufrieden wirkte er jedoch nicht.
»Soll ich hier draußen bei dir bleiben?«, fragte er.
Nia schüttelte den Kopf. »Ich möchte gerne alleine sein.«
Kurz verzog er die Miene, doch dann ging er ohne zu murren an Nia vorbei und kletterte hinab in die Finsternis. Er war noch nicht weit gekommen, da hielt er inne.
»Wenn du etwas brauchst«, sprach er tonlos und ohne sich umzudrehen. »Lass es mich wissen.«
»Ich danke dir für deine Hilfe«, antwortete Nia. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein. »Ich weiß gar nicht, wie ich dich rufen kann. Hast du einen Namen?«
Offenbar amüsiert über die Frage, schnaubte der Fremde.
»Du kannst mich Angavu nennen.«
»In Ordnung. Danke, Angavu.«
»Nichts zu danken.«
Mit diesen Worten verschwand er in der Tiefe unter dem Fels. Nia konnte nur erahnen, wie groß und verwinkelt die Höhle wirklich war. Sie war froh, nicht dort unten sein zu müssen, ihr Leben lang hatte sie bei Nacht den Himmel über ihrem Kopf gewusst und so würde es auch heute sein.
Noch einmal sah sie sich flüchtig vor der Höhle um. Weit und breit war niemand auszumachen, das Hochland war genauso kahl und ausgestorben, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Der harte Untergrund machte es ihr nicht leicht, eine geeignete Stelle zum Hinlegen zu finden und so begnügte sie sich mit einem halbverdorrten Grasbüschel, auf dem sie zumindest ihren Kopf ablegen konnte. Dann lauschte sie in den Wind.
Da waren allerlei Geräusche zu vernehmen, die von weither herandrangen, vermutlich Vögel oder Affen. Einige der Laute waren ihr vertraut, andere hörte sie zum ersten Mal. Vielleicht war das Hochland doch nicht so verlassen, wie sie angenommen hatte. Oder aber der Wind trug die Geräusche vom Plateau bis hierher.
Das Plateau... nie zuvor hatte Nia eine Nacht außerhalb der Grenzen ihrer Heimat verbracht. Hier, im Gebirge, fühlte sie sich fehl am Platz. Sie gehörte nicht hier her, es war nicht ihr Zuhause. Sie hoffte inständig, dass andere Rudelmitglieder, so wie sie, den Angriff der Eindringlinge überlebt hatten. Vielleicht konnten sie gemeinsam das Herz des Rudels erhalten. Gleichzeitig war ihr klar, dass ihr altes Leben für immer verloren war, versunken im Morast der Zeit. Ohne Ardhi würde die Welt nie wieder dieselbe sein.
Noch lange Zeit blieb Nia wach und dachte nach über Ardhis Tod, das Erscheinen der Fremden und die Zeichen, die sie erblickt hatte. Sie hatte gewusst, dass etwas Furchtbares geschehen würde, aber sie war klein und machtlos gewesen. Das durfte nie wieder passieren. Nie wieder würde sie tatenlos zusehen, während der schwarze Abgrund jene verschlang, die ihr nahe standen.
»Verzeih mir, Ardhi«, flüsterte Nia schwach, die Schnauze unter ihren Pfoten vergraben. »Ich hätte dir helfen müssen. Mein ganzes Leben lang warst du immer für mich da und als du ein einziges Mal auf meine Hilfe angewiesen warst, war ich zu schwach, um zu handeln. Verzeih mir.«
Schließlich fiel Nia in einen unruhigen Schlaf voll wirrer Träume von vergangenen Ereignissen. Sie erwachte erst, als die ersten Sonnenstrahlen ihr Fell wärmten.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...