Ajali hatte ihren Rudelführer immer bewundert. Joto war ebenso stark wie geschickt, eine wahre Kämpfernatur und gleichzeitig doch mild und gütig im Umgang mit den Löwinnen seines Rudels. Auch seine Klugheit und Raffinesse hatten sie ihr Leben lang immer wieder verblüfft. Seine zahllosen Fertigkeiten hatten ihn zu einem wertvollen Wächter über das noch junge Rudel gemacht und keine der Löwinnen verspürte ihm gegenüber irgendeine Form von Abneigung oder gar Groll.
Daher war es verständlich, dass Ajali und die anderen sich große Sorgen machten, als er loszog um den Fremden gegenüberzutreten, die im Morgengrauen den Fluss und damit die Grenze des Reviers überschritten hatten. Zwar hatte Ajali vollstes Vertrauen in die Fähigkeiten ihres Rudelführers, doch die Tatsache, dass er sich in diesem Kampf gleich zwei Kontrahenten gegenübersah, beunruhigte sie. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie Joto zur Seite gestanden, wäre Seite an Seite mit ihm den Fremden entgegengetreten. Doch die Gesetze ihrer Gemeinschaft untersagten jegliche Einmischung in die Auseinandersetzungen der Männchen. So war sie ebenso wie alle anderen Löwinnen dazu verdammt, dem Geschehen tatenlos zuzusehen.
Im Schutz der Büsche und Bäume hatte sich das Rudel, samt der Jungen, niedergelassen und beobachtete nun, was auf der nahen Ebene vor sich ging. Dort stand Joto, das Haupt stolz erhoben, während der milde Südwind seine majestätische Mähne umspielte. Sein Augenmerk galt allein den beiden sich nähernden Eindringlingen.
Ihre Augen zu Schlitzen verengend versuchte Ajali die Gesichter der Fremden auszumachen. Insbesondere war es der größere der beiden, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, ein muskulöser und stämmiger Löwe, der Joto um einen halben Kopf überragte. Selbst auf die Entfernung bemerkte Ajali, dass eines seiner Augen trüb und glanzlos wirkte, wie ein wolkenverhangener Himmel unmittelbar vor einem Sturm. Gefolgt von seinem Begleiter trat der Fremde bis auf wenige Schritte an Joto heran, welcher unbeeindruckt den Blicken standhielt und keine einzige Pfotenbreite zurückwich.
Nachdem die beiden Parteien sich einige Augenblicke lang stumm gegenseitig belauert hatten, die Entschlossenheit des jeweils anderen auslotend, hatte der große Fremde schließlich das Wort ergriffen. Gegen den Wind konnte Ajali kaum mehr als Wortfetzen aufschnappen, aus denen sie nicht so recht schlau wurde. Sie wollte sich näher an das Geschehen herantasten, doch ihre Schwester hielt sie zurück.
»Das ist nicht unsere Angelegenheit«, flüsterte sie, eine Pfote auf Ajalis Schulter legend und mit dem Blick einer belehrenden Mutter, den Ajali an ihr nicht ausstehen konnte. Es ging hier um die Zukunft ihres Rudels. Wie konnte das nicht ihre Angelegenheit sein?
Mittlerweile schwieg der Fremde. Ajali glaubte bereits, er wolle sich abwenden, um das Weite zu suchen, als plötzlich etwas Unerwartetes geschah.
Mit einer Geschwindigkeit, die den großen und stämmigen Löwen Lügen strafte, schoss mit einem Mal eine seiner beiden Pfoten vor und traf den völlig unvorbereiteten Joto unmittelbar im Gesicht. Schwer getroffen ging der Rudelführer leblos zu Boden, sein Blick zeigte nur Erstaunen.
Im selben Augenblick sprang Ajali auf, einen verzweifelten Schrei auf den Lippen. Innerhalb eines kurzen Augenblicks war ihre Welt zusammengebrochen, Trauer, Schmerz und Hass vereinten sich in ihrem Herzen zu einem brennenden Gemisch, das sie von innen heraus zu verzehren drohte.
»Nein! Joto!«
Ihre Rufe halfen nicht. Der Rudelführer blieb regungslos am Boden liegen, geschlagen und besiegt. Ajali sah mit an, wie der große Fremde mehrmals prüfend gegen den leblosen Körper trat. Dann kamen die beiden Löwen plötzlich mit schnellen Schritten auf den Rest des Rudels zu. Ajalis Mutter war die erste Löwin, die ihnen zum Opfer fiel. Mutig wie sie war, hatte sie sich den Fremden gegenübergestellt, um die Jungen des Rudels vor ihren Fängen zu schützen und hatte dafür mit ihrem Leben bezahlt. Die Fremden gingen ebenso rasch wie skrupellos vor. Sie kannten kein Erbarmen und machten vor niemandem Halt, nicht einmal vor den Jüngsten.
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Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...