»Nia! Komm her, schnell!«
Nia zuckte zusammen, als mit einem Mal der fremde Löwe vor ihr stand. Er hielt sich geduckt und sah sich mehrmals um, bevor er in gesenktem Tonfall zu erklären begann.
»Diese Biester müssen die Beute gewittert haben. Es sind acht Tiere, darunter drei große Weibchen, mit denen ich mich nur ungern anlegen möchte.«
Nia nickte zustimmend. Sie wusste, dass unter den getüpfelten Hyänen die ausgewachsenen Weibchen weitaus gefährlicher waren als ihre eher schmächtigen männlichen Artgenossen.
»Du hast Glück, dass sie abgelenkt waren«, sprach der Fremde. »Ich dachte schon, sie erwischen dich.« Mit einer raschen Geste seines Kopfs drängte er zur Eile. »Na los, worauf wartest du noch? Hier bist du nicht sicher.«
Schnell rappelte Nia sich auf. Sie traute dem Fremden nicht, aber als Hyänenfutter wollte sie ganz sicher nicht enden.
»Wohin?«, fragte sie eilig.
»Dem Bachverlauf folgen, flink aber leise. Und halt dich geduckt!«
Nia tat wie der Fremde es ihr angewiesen hatte und hastete mit gesenktem Kopf voran. Ihr war, als würde von hinter der nahen Anhöhe schiefes, heiseres Gelächter erklingen. Unbeirrt davon lief sie weiter, konzentriert eine Pfote vor die anderen setzend. Es hätte nicht viel gefehlt und der Schwindel hätte dafür gesorgt, dass das frisch verzehrte Gazellenfleisch ihr wieder hochgekommen wäre. Doch irgendwie gelang es ihr, Herr über ihren Magen zu werden und gleichzeitig dem Wegverlauf vor ihr zu folgen.
Schließlich, sie hatte die Anhöhe bereits weit hinter sich gelassen, brach Nia erschöpft zusammen. Der Länge nach ließ sie sich auf den Boden fallen und ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem gnadenlos überhasteten Rhythmus, während sie verzweifelt nach Atem rang. Der Fremde, der ihr dicht auf den Fersen gefolgt war, hielt augenblicklich inne und trat an sie heran.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Nia schüttelte ihren Kopf in der Hoffnung, den Schwindel damit bekämpfen zu können. Das Ergebnis war jedoch ernüchternd.
»Es könnte schlimmer sein«, keuchte sie. »Ich brauche nur einen Moment.«
Der Fremde reckte den Hals, während er den Weg entlang blickte, den sie zurückgelegt hatten.
»Wir haben sie wohl abgehängt. Vermutlich sind sie zu sehr damit beschäftigt, sich um die Reste ihrer gestohlenen Beute zu streiten, als dass sie Interesse für uns übrig hätten.«
Nia beobachtete den Fremden, während er Ausschau hielt. Hatte sie ihn womöglich falsch eingeschätzt? Vielleicht wollte er ihr doch einfach nur helfen.
»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte sie vorsichtig.
Er lächelte kess und sah Nia an.
»Na ja, eigentlich wollte ich bloß die Gazelle mitnehmen. Du hattest deinen Magen ja offenbar ausreichend gefüllt, da dachte ich, den Rest könnte ich noch verwerten. Ich lasse ungern etwas von meiner Beute ungenutzt herumliegen, weißt du. Ich war gerade dabei, das Tier wegzutragen, da habe ich die Hyänen gewittert.«
»Und jetzt haben sie deine Beute.« Mit einem Mal fühlte Nia sich auf eine seltsame Art schuldig.
»Halb so schlimm.« Der Fremde winkte ab. »Sollen sie meinet-wegen daran ersticken. Ich werd' mir was Neues jagen, es war ja schließlich nicht die letzte Gazelle, die unter dem Himmel läuft.«
Nia, die allmählich wieder zu Atem kam, richtete sich auf. Obwohl ihre Furcht vor dem Fremden nachließ, hielt sie es nach wie vor für klüger, ihm keine Gelegenheiten für einen schnellen Angriff zu bieten. Doch abgesehen davon verspürte sie auch Neugier.
»Du jagst ganz alleine?«
Er sah sie an, als hätte sie einen schlechten Scherz gemacht. »Was glaubst du denn, wer mir helfen würde? Die Hyänen?«
Sein Lachen sorgte dafür, dass Nia sich mit einem Mal schrecklich dumm vorkam. Sie war einfach erstaunt, dass der Fremde im Alleingang eine Gazelle erlegt hatte. Die zierlichen Tiere waren flink, agil und immer aufmerksam, das hatte die Löwin oft genug zu spüren bekommen.
»Die meisten Löwen jagen völlig verkehrt«, erklärte er, als könne er ihre Gedanken lesen. »Die Kunst der Jagd besteht darin, die Beute zu dir kommen zu lassen, anstatt ihr hinterher zu hetzen. Dann hast du nämlich noch die Kraft, um sie zur Strecke zu bringen. Wenn du möchtest, zeige ich dir wie es geht.«
»Ich muss zurück auf das Plateau«, erinnerte Nia ihn an ihr Vorhaben.
»Ja, ja, ich weiß. Und du solltest dich wirklich beeilen. Ich habe gesehen wie schnell Hyänen einen Kadaver in Stücke reißen und verschlingen. Sie werden ihr kleines Festmahl schon sehr bald beendet haben. Und dann wird ihnen möglicherweise deine Fährte wieder einfallen.«
Nia versuchte ihre Chancen abzuwägen. Der Schwindel und die Entkräftung würden dafür Sorge tragen, dass sie nur langsam vorankam. Vielleicht würde sie sich sogar verlaufen und einen Teil ihres Weges wieder zurückgehen müssen.
»Wenn ich du wäre«, sprach der Fremde, »dann würde ich mir für die Nacht einen sicheren Unterschlupf suchen. Nach Sonnenaufgang liegen die Hyänen wieder faul im Schatten ihrer Höhle, dann kannst du dir alle Zeit der Welt lassen für deinen Abstieg.«
Er hatte nicht unrecht. Ardhi hatte Nia beigebracht, dass Hyänen bevorzugt bei Nacht unterwegs waren. Sie besaßen womöglich nicht den Mut, einen ausgewachsenen männlichen Löwen anzugreifen, aber bei Nia war das etwas anderes. Sie war klein und schmächtig und dazu noch angeschlagen. Es war nicht auszuschließen, dass die Hyänen sie bis hinunter auf das Plateau verfolgen würden.
Nia konnte dem Fremden ansehen, dass er seine folgenden Worte mit äußerster Sorgfalt wählte.
»Du kannst mit mir kommen«, bot er an. »Nicht weit von hier gibt es eine Höhle, da können wir uns niederlassen. Ich biete dir Schutz für heute Nacht. Solange ich bei dir bin, werden die Biester es sich zwei Mal überlegen, uns ans Fell zu gehen.«
Der Eifer, den der Fremde an den Tag legte, wenn es darum ging, Nia zum Bleiben zu bewegen, beunruhigte die Löwin zutiefst. Sie war sich beinahe sicher, dass er nicht ohne Hintergedanken handelte.
»Warum tust du das?«, fragte Nia, ihren ganzen Mut zusammen-nehmend.
»Warum tue ich was?« Der Fremde schien verwirrt.
»Warum hilfst du mir?«
»Nun«, sprach er und lächelte verwegen. Er schien zu verstehen. »Wir Löwen sollten zusammenhalten, denkst du nicht?«
Es hatte keinen Zweck. Wenn Nia nicht zur Hyänenbeute werden wollte, musste sie auf das Angebot des Fremden eingehen. Er würde sie wohl kaum umbringen, dazu hätte er, wie er selbst schon gesagt hatte, bereits ausreichend Gelegenheit gehabt.
»In Ordnung, ich komme mit dir. Aber nur bis Sonnenaufgang, dann werde ich mich auf den Weg machen.«
»Natürlich«, antwortete er. »Offenbar besitzt du doch einen Funken Vernunft, das freut mich.«
Der triumphierende Glanz, der in den Augen des Fremden lag, als er in die Richtung deutete, in die sie zu gehen hatten, entging Nia nicht. Während sie ihre ersten Schritte machte und vorsichtig noch einmal in Richtung des Fremden lugte, fiel ihr außerdem auf, dass er das gleiche zufriedene, hämische Grinsen aufgesetzt hatte, das er bereits bei ihrer ersten Begegnung gezeigt hatte.
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Savanne in der Abendkühle
FantasiaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...