Sie setzten ihren Weg in gemächlichem Tempo fort, Angavu voran, Nia mit ein paar Schritten Abstand hinter ihm her. Er führte sie nach Westen durch eine immer gleich aussehende und weitestgehend kahle Landschaft. Nach einer Weile fiel der Boden steiler ab und Nia sah, dass sie dem Plateau nun näher kamen. Kurz darauf bog Angavu jedoch unerwartet nach Norden ab und sie bewegten sich nun entlang der Berge anstatt von ihnen weg. Offenbar war der Weg, den der Löwe einschlug nicht der Bergpfad, den Nia kannte und der sie bei ihrer Flucht hinauf in diese Gegend geführt hatte. Angavu schien einen weiten Bogen zu schlagen. Warum er das tat, sagte er nicht und Nia verkniff es sich, zu fragen. Insgeheim war sie dankbar dafür, nicht den Bergpfad hinabsteigen zu müssen. Die Angst vor dem, was sie dort erwartete, war zu groß. Die Vorstellung, auf dem Weg Ardhis toten Körper vorzufinden, hatte bereits Anflüge von Panik in ihr ausgelöst. Sie malte sich aus, wie dutzende Geier vom Himmel herabstachen und sich gierig auf die Überreste stürzten. Nein, das konnte sie nicht mit eigenen Augen sehen, der Schmerz war ohnehin schon lähmend genug.
Während sie weiter voranschritten und die inzwischen quälend heiße Sonne am Himmelszelt emporkletterte, bemühte sich Nia zu schätzen, wo sie sich befanden. Mittlerweile konnte sie große Teile des Plateaus überblicken, doch es gab wenig, woran sie sich hätte orientieren können. In der Nähe der Schlafplätze kannte sie jeden Baum und jeden Strauch, der größte Teil des Plateaus war ihr jedoch nicht vertraut genug, als dass sie hoffen konnte, bestimmte Orte wiederzuerkennen. Ihr Plan sah vor, dass sie sich, sobald sie auf dem Plateau angekommen war, einfach entlang des östlichen Hanges bewegte. So würde sie zwangsläufig früher oder später auf die charakteristischen Felsformationen ihrer Heimat stoßen, sofern sie die richtige Richtung wählte. Dazu musste sie jedoch erst einmal nach unten gelangen.
Nachdem sie mehrere Stunden schweigend einem mehr oder weniger erkennbaren Wegverlauf gefolgt waren, blieb Angavu mit einem Mal ohne Vorwarnung stehen. Er hob die Schnauze, um den Wind einzuziehen, dann sah er sich gründlich um. Nia begann nervös zu werden. Hatte er womöglich etwas gewittert? Waren Hyänen in der Nähe?
»Was ist los?«, fragte sie vorsichtig.
Die Antwort verblüffte sie.
»Nichts.« Der Löwe sah sie nicht an, stattdessen warf er weitere Blicke in alle Himmelsrichtungen.
»Nichts?«
»Ja, nichts«, wiederholte er. »Ich brauche eine Pause, das ist alles. Meine Pfoten fühlen sich an als ob sich ein Büffel auf ihnen gewälzt hätte und diese Hitze macht mich fertig. Leider gibt es hier in der Nähe nicht viel, was einen Schatten wirft.«
Nia verstand. Angavu sah sich nach einer guten Möglichkeit für eine Rast um. Bäume wuchsen hier aufgrund des festen Bodens nur selten und die Felsen halfen nicht weiter, wenn die Sonne direkt von oben herabbrannte.
Nach kurzer Suche fanden die beiden Löwen schließlich einen kleinen Felsvorsprung ähnlich dem, unter welchem Angavu Nia am vorigen Tag gefunden hatte. Dort ließen sie sich nebeneinander nieder. Zwar bereitete Nia die Nähe des Fremden Unbehagen, doch die pralle Sonne war auf Dauer kaum zu ertragen und der Schatten dagegen angenehm kühl.
»Wie weit ist das Plateau noch entfernt?«, fragte die Löwin nach einer Weile. Der Weg hatte sich schon jetzt als länger herausgestellt, als sie es ursprünglich angenommen hatte.
»Nicht mehr weit«, sprach Angavu, der Nia den Rücken zugewandt hatte und seinen Körper gegen den Fels lehnte. »Du hast mir nicht gesagt, wo genau sich dein Rudel befindet, deswegen habe ich den Weg genommen, der sich am bequemsten zurücklegen lässt. Sobald wir auf dem Plateau angekommen sind, ist es dann an dir, die Führung zu übernehmen.«
»Du musst nicht noch weiter mitkommen«, sprach Nia. »Wenn du mir den Weg zeigst, komme ich von hier aus allein zurecht, glaube ich.«
Abschätzend sah der Löwe sie an.
»Ich sorge dafür, dass du sicher zurück zu deinem Rudel kommst, vorher kehre ich nicht um.«
Nachdem die Mittagshitze sich allmählich wieder gelegt hatte, beendeten die beiden Löwen ihre Rast und folgten weiter dem eingeschlagenen Weg. Ein gutes Stück voran stießen sie auf einen kleinen Bach, der ihnen gerade recht kam, um sich ein wenig zu erfrischen und die geschundenen Pfoten zu kühlen. Die Abkühlung half Nia außerdem dabei, ihrem noch immer allgegenwärtigen, wenn auch längst nicht mehr so starken Schwindel entgegenzuwirken. Von nun an folgten sie dem Verlauf des Baches, der sie schon bald direkt auf das Plateau führte. Es war ein angenehmes Gefühl, als Nia zum ersten Mal wieder die gewohnte, weiche Erde unter ihren Pfoten spürte. Ihre Heimat konnte nun nicht mehr weit sein. Da Angavus Pfad sie weit nach Norden geführt hatte, stand ihnen nun ein Marsch zurück nach Süden bevor. Zwar konnte Nia nicht sagen, was sie erwartete, doch sie hoffte inständig, dass sie die anderen überlebenden Löwinnen in der Nähe der Schlafplätze finden würde. Immerhin war dies der Ort, an den sie alle ihr Leben lang immer wieder zurückgekehrt waren.
»Du hast mir immer noch nicht verraten, was du oben im Gebirge getrieben hast«, ergriff Angavu das Wort, nachdem sie bereits eine Weile am Osthang entlang gewandert waren. Wie angekündigt, hatte er Nia die Führung überlassen und trottete nun neben ihr her. Er schien die Hitze nicht gut zu vertragen, hielt aber Schritt ohne zu Murren.
»Ich war auf der Flucht«, antwortete Nia knapp.
Angavu wirkte interessiert. »Auf der Flucht? Vor wem?«
Bevor sie antwortete, wägte Nia ab, wie viel sie dem fremden Löwen anvertrauen durfte. Sie wollte auf keinen Fall etwas verraten, was sie oder ihr Rudel in Gefahr hätte bringen können. Schließlich entschied sie sich dafür, dass es in Ordnung war, Angavu von dem brutalen Übergriff der Fremden zu erzählen.
»Unser Rudel wurde von Fremden überfallen«, erklärte sie, wobei sie eine emotionale Distanz wahrte. Sie wollte nicht, dass Angavu sie bemitleidete. »Sie haben drei meiner Freundinnen getötet.«
»Hat euch denn niemand verteidigt?«, fragte er ein wenig irritiert.
Nia zögerte.
»Unser Rudelführer war zu alt, um uns beschützen zu können. Er ist ebenfalls geflohen.«
Aus dem Augenwinkel sah Nia, wie Angavu verständnisvoll nickte. Gerade wollte sie fortfahren, da weckte plötzlich etwas ihre Aufmerksamkeit. Voraus, in einiger Entfernung, war eine Ansammlung von Felsen aufgetaucht, die oberhalb des Osthangs verstreut lagen. Nia kannte diesen Anblick. Sie war Zuhause.
Angespornt von ihrer Entdeckung beschleunigte die Löwin ihre Schritte. Angavu tat es ihr gleich, offenbar schien er sein Versprechen sehr genau zu nehmen und nicht umkehren zu wollen, ehe sich seine Begleiterin wieder in den Reihen ihres Rudels befand. Sie war sich nicht sicher, wie die anderen auf ihn reagieren würden, doch für den Augenblick machte sie sich deshalb keine Sorgen. Alles was sie wollte, war so schnell wie möglich ein vertrautes Gesicht wiederzusehen. Kimya, Nadhari, Shahidi, ja sogar die störrische und temperamentvolle Imani. Obwohl Nia stets wie ein Geist zwischen ihnen gelebt hatte, sehnte sie sich danach, wieder mit ihnen vereint zu sein, um einander Trost zu spenden und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.
Die Euphorie trieb sie so sehr voran, dass ihr beinahe entgangen wäre, wer auf dem höchsten der Felsen thronte und seinen Blick über das Land schweifen ließ.
»Nia, Vorsicht!«
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Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...