Während Nia dem fliehenden Löwen hinterher sah, vernahm sie Samahas Stimme neben sich. Die Löwin wandte sich an Mavunde.
»Bist du verletzt, Weißer?«
Die Worte lösten Nia aus ihrer Starre. Besorgt sah sie sich nach Mavunde um. Was soeben geschehen war, hatte sie so sehr erstaunt, dass sie Mavundes Verletzungen beinahe vergessen hatte. Aber der weiße Löwe stand aufrecht, von seiner Erhabenheit hatte er nichts eingebüßt.
»Macht euch keine Sorgen um mich«, entgegnete er. »Diese Wunden werden verheilen. Es sind andere Wunden, um die ich mich mehr sorge.«
Obwohl er sie nicht ansah, wusste Nia, dass er über sie sprach.
»Wir danken dir für deine aufopferungsvolle Hilfe«, fuhr Samaha fort. »Ich bin über alle Maßen erleichtert, dass Dhalimu nun keine Gelegenheit mehr erhalten wird, seine Drohungen in die Tat umzusetzen.«
»Dankt nicht mir«, sprach Mavunde. »Sie ist es, die soeben unser aller Leben gerettet hat.« Er deutete auf Nia. »Ihre Worte müssen eine einzigartige Wirkung auf Angavu gehabt haben, sonst hätten sie ihn nicht in seinem Vorhaben umgestimmt. Sie haben ihn dazu gebracht, unsere Leben über das seines Bruders zu stellen. Und womöglich sogar über sein eigenes.«
Nia fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Mavunde ließ sie wie eine Heldin dastehen, aber das war sie nicht. Sie hatte das Leben des weißen Löwen aufs Spiel gesetzt, ohne über die Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken. Das war nicht gerade die Tat einer Heldin.
»Wie wird es jetzt weitergehen?«, fragte sie, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken.
»Nun«, entgegnete Samaha mit einem prüfenden Blick in Imanis Richtung. »Wir werden versuchen, weiterzumachen so gut wir können. Wir haben noch immer eine ganze Menge Mäuler zu stopfen und die Trockenzeit rückt mit jedem verstreichenden Tag näher.«
»Wir würden uns freuen, dich wieder an unserer Seite zu wissen«, ergänzte Imani an Nia gewandt. Es war ausgesprochen ungewohnt, eine solche Aussage aus dem Mund jener Löwin zu hören, die Nia in der Vergangenheit so oft und scharf kritisiert hatte. Die jüngsten Ereignisse schienen Imanis Einstellung dahingehend gewandelt zu haben. Zwar hatte sich nichts an der rauen Art verändert, mit der sie Nia ansah, doch es war zu spüren, dass die Löwin Nia mittlerweile als vollwertiges und wichtiges Rudelmitglied ansah, unabhängig von ihren Jagdfähigkeiten.
Nia nickte dankbar. Daraufhin wandten sich die Löwinnen an Mavunde.
»Wenn du uns versprichst, dass du unser Rudel in Frieden anführen wirst, ohne unseren Jungen Schaden zuzufügen, sind wir bereit auf Widerstand zu verzichten.«
Samahas Worte waren als ein Angebot des guten Willens zu verstehen. Auf Mavundes direkte und unausgeschmückte Antwort war sie nicht vorbereitet.
»Ich habe nicht vor, euer Rudel anzuführen.«
Ihrem ausgesprochen verblüfften Gesichtsausdruck nach zu urteilen, schien Samaha diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen zu haben. »Was... Wieso... Warum bist du dann hier? Warum hast du dein Leben im Kampf gegen die Brüder riskiert?«
Mavunde blieb gelassen. Sein Blick fiel auf den leblosen Körper Dhalimus.
»Weil ich der Ansicht bin, dass die Brüder mehr als genug Leid über diese Welt gebracht haben. Ich muss gestehen, dass ich gehofft habe, Dhalimu würde seine Fehler selbst einsehen. Er muss einmal ein sehr kluger und geschickter Junglöwe gewesen sein. Aber Sahibs Einfluss und sein Rachedurst haben ihn jede Form von Mitleid vergessen lassen. Sein Terror hat nun ein Ende gefunden.«
»Und was wirst du nun tun?«, fragte Nia. Der Gedanke, dass sie Mavunde vielleicht nie wieder sehen würde, betrübte sie.
Der weiße Löwe hielt einen Augenblick inne, ehe er antwortete. »Es gibt andere Dinge, um die ich mich kümmern muss.«
Irgendetwas an der Art von Mavundes Worten sagte Nia, dass die Dinge, von denen der Löwe sprach, in einem Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen standen. Offenbar wollte Mavunde sein Vorhaben jedoch für sich behalten.
»Bevor ich das Plateau verlasse, habe ich jedoch eine Bitte an euch«, sprach er. »Meine Gefährtin wurde auf dem Weg hierher verwundet. Sie wird nicht in der Lage sein, mich weiter zu begleiten, und selbst wenn sie es könnte, wäre ich mir nicht sicher, ob sie es wollen würde. Sie hat Schlimmes durchgemacht und ich denke, es würde ihr gut tun, sich von ihrem Zorn und ihrer Trauer zu lösen und einen Neuanfang zu wagen.«
Samaha sprach im Namen der anderen Löwinnen des Rudels. »Sie ist bei uns willkommen, wann immer sie möchte. Wir sind bereit, sie als vollwertiges Rudelmitglied aufzunehmen.«
»Ich danke euch«, sprach Mavunde. »Sie ist eine gute Jägerin und eine treue Freundin. Ihr werdet sie zu schätzen lernen, so wie ich es getan habe. Ich werde sie zu euch bringen, bevor ich mich auf den Weg nach Süden mache.«
Obwohl sie nie bewusst darüber nachgedacht hatte, hatte ein Teil von Nia offenbar insgeheim gehofft, Mavunde würde bleiben und Rudelführer der Löwen von Milima Kubwa werden. Unter all den Anführern der Vergangenheit wäre er vermutlich der mit großem Abstand weiseste und gütigste geworden. Aber Nia verstand, dass ein Geschöpf wie Mavunde nicht dazu geschaffen war, sein Dasein an einem einzigen Ort zu fristen. Was auch immer er plante zu tun, Nia war sich sicher, dass es von weitaus größerer Bedeutung war, als Wache über eine Pfote voll Löwinnen zu halten. Der weiße Löwe wusste, was er tat. Da war sie sich sicher.
Bevor die Löwen sich aufmachten und den Weg zu den nahen Schlafplätzen antraten, um Kimya und den anderen zu berichten, was sich draußen auf dem Plateau zugetragen hatte, sah Nia sich noch einmal um. Ihr Blick fiel auf die Stelle, an der sie Angavu zum letzten Mal gesehen hatte, bevor er zwischen den Blättern und Zweigen verschwunden war. Bei dem Anblick stieg ein ungewohntes Gefühl der Beklommenheit in ihr auf.
War dies wirklich das Ende? Würde sie Angavu nie wieder sehen?
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...