Während der Nachmittag vorüberzog und der Abend sich allmählich ankündigte, begaben sich Nia und Ardhi zurück zu den Schlafplätzen des Rudels. Diese lagen auf einer Anhöhe am östlichen Rand des Plateaus, direkt an den Hängen und Klippen der Gebirgsausläufe. Hierher zogen sich die Löwinnen für gewöhnlich nach der Jagd zurück, um ausgiebig zu ruhen und neue Kräfte zu sammeln. Die in vielen unterschiedlichen Formen aus dem grasbewachsenen Boden aufragenden Stein- und Felsstücke ermöglichten es nicht nur, sich einen guten Überblick über weite Teile des Plateaus zu verschaffen, sondern boten zusätzlich auch Schatten. Hinzu kam, dass es hier zahlreiche Möglichkeiten gab, die Jungen des Rudels vor den Augen gieriger Räuber, wie zum Beispiel Hyänen, zu verstecken.
Wie sich herausstellte, hatte Nia den Sturz gut überstanden, der Fußmarsch bereitete ihr keinerlei Probleme. Auf dem Weg blieb sie Ardhi gegenüber jedoch wortkarg und verbrachte die meiste Zeit in Gedanken. Es gab vieles, worüber es sich nachzudenken lohnte, insbesondere das Rätsel um die geheimnisvollen Spuren, die sie gefunden hatten und die ausgesprochen merkwürdige Art und Weise, wie es zu diesem Fund gekommen war. Ardhi schien es nicht zu stören, dass Nia so schweigsam war. Tatsächlich war die ältere Löwin einiges gewohnt, was das manchmal ungewöhnliche Verhalten ihrer Freundin anging. Was Nia jedoch nicht entging, war die leichte Andeutung von Sorge, die sie in Ardhis Zügen zu erkennen meinte. Über den Grund dafür konnte sie jedoch nur spekulieren.
Als Ardhi sie die letzten Schritte bis hin zu den ersten verstreut liegenden Steinbrocken gebracht hatte, vergewisserte sie sich, dass Nia allein zurecht kam, ehe sie sich auf den Weg machte, die übrigen Löwinnen aufzusuchen und gegebenenfalls zu unterstützen. Ob den Jägerinnen mit vereinten Kräften an diesem Tag noch ein Fang gelingen würde, stand jedoch in den Sternen. Irgendwann würde sich die Erschöpfung bemerkbar machen. Abgesehen von ihrer Unterstützung bei der Jagd hatte Ardhi auch vor, Samaha über den ungewöhnlichen Fund zu unterrichten, den sie und Nia gemacht hatten und in Erfahrung zu bringen, ob eine der anderen Löwinnen vielleicht doch vor kurzem im Alleingang Jagderfolg gehabt hatte, ohne dass Nia und Ardhi davon etwas mitbekommen hatten. Das war immerhin nicht völlig auszuschließen, wenngleich weder Ardhi noch Nia daran glaubten.
»Falsafas Pranken sind mehr als breit genug, um auf die Spuren zu passen«, scherzte Ardhi. »Manchmal erinnern sie mich eher an Elefantenfüße als an Pfoten.«
Mit einem aufmunternden Lächeln verabschiedete sich die Löwin und Nia sah ihr noch einige Augenblicke hinterher, ehe sie sich vom Plateau abwandte, um sich einen Platz zwischen den Felsen zu suchen und sich zu erholen. Innerlich war sie erleichtert, dass das Jagen für sie heute ein verfrühtes Ende genommen hatte. Was sie nun wirklich brauchte, war etwas Einsamkeit, um über das nachzudenken, was geschehen war. Denn ganz gleich wie sehr sie sich auch bemühte, ihren Geist freizumachen, ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihren Sturz und die merkwürdigen Eindrücke, die ihre Sinne vernebelt hatten.
Mit einer Mischung aus Beklommenheit und Ehrfurcht rief Nia sich den gewaltigen Strom, der unbändig und unaufhaltsam das gesamte Land überzogen und alles Leben unter sich begraben hatte, noch einmal ins Gedächtnis. So real die Eindrücke im Moment des Sturzes auch gewirkt hatten, nun, da sie daran zurück dachte, verblasste die Erinnerung bereits. Was blieb waren bestimmte Details, die in den Vordergrund rückten, allen voran der bodenlose, schwarze Abgrund, der sich inmitten all des anderen Unheils unter den Pfoten der Löwin aufgetan hatte sowie der fremde Schrei, der ihr durch Mark und Bein gegangen war und sie noch immer erschaudern ließ, wenn sie an ihn dachte. Was lebte dort unten in der Tiefe, das solche Schreie auszustoßen vermochte? Was auch immer es war, es schien furchtbare Qualen zu durchleiden, Schmerzen, die tiefer einschnitten als jede Wunde. Gleichzeitig spiegelte der Schrei so etwas wie eine feurige Wut wieder, ein gieriges Lechzen nach Rache.
Tatsächlich war es nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass Nia in einem ihrer Träume Zeugin eines solchen Horrorszenarios geworden war. Vor mehreren Jahren, sie war noch ein Kind gewesen, war etwas verblüffend Ähnliches geschehen. Wann immer sie seitdem versucht hatte, zu beschreiben, was genau sie damals erlebt hatte, war sie ins Stocken geraten. Denn genau wie heute hatten ihr auch damals die Worte gefehlt, um die Gefühle zu beschreiben, die sie beim Wahrnehmen der fremden Eindrücke verspürt hatte. Große Furcht hatte sie durchdrungen. Aber nicht etwa vor dem Fremdartigen selbst, sondern vielmehr vor dem, was es ihr zu vermitteln versucht hatten. Die Vision hatte ihr offenbart, dass etwas Schreckliches geschehen würde, ein traumatisches Ereignis, das unmittelbar bevorstand und ihr Leben für immer verändern würde. Und so war es gekommen.
Mit einem Ruck wandte sich Nia im Liegen herum und verlagerte ihr Gewicht auf ihre linke Körperhälfte, die Beine zur Seite abgelegt. Ihre Augen starrten in den weiten, azurblauen Himmel und auf das einzige Anzeichen eines Wolkenfetzens, das sich dort in weiter Ferne erahnen ließ. Eine ihrer Vorderpfoten zuckte nervös. Im nächsten Augenblick hatten die Erinnerungen sie in ihren Bann gezogen.
Sie hockte nicht mehr als ein paar Schritt weit von ihrem Ruheplatz entfernt auf einem kleinen Vorsprung an einem der höheren und spitzeren Felsen der Formation. Es war früher Morgen und die zahlreichen, in farbenfrohe Federn gekleideten Vögel in den Geästen der nahebei stehenden Bäume pfiffen und sangen, während sie wild flatternd von Ast zu Ast sprangen und sich gegenseitig aufscheuchten. Nia sah auf zu eben jenem fernen Punkt am Himmel, an dem lediglich ein leichter Dunstschleier zu erkennen war. Mit zitternden Beinen krallte sie sich fest, um nicht abzurutschen. Der harte Stein machte es ihr dabei nicht leicht.
»Nia, komm herunter. Du wirst stürzen und dir sämtliche Knochen brechen, wenn du nicht aufpasst!« Ardhi stand unten zwischen den Felsen. Mit besorgter Miene sah sie zu Nia herauf.
»Ich möchte nicht zu euch kommen«, sprach Nia abweisend. »Hier oben ist es besser. Hier höre ich ihre Schreie nicht.«
Für einen Augenblick hüllte sich Ardhi in Schweigen, offenbar von der Direktheit der jungen Löwin vor den Kopf gestoßen. Doch rasch hatte sie sich wieder gefangen.
»Deine Mutter braucht dich jetzt, Nia. So, wie du sie bisher gebraucht hast. Ich weiß, dass du ihr sehr, sehr wichtig bist. Also bitte komm herunter. Lass uns zu ihr gehen, damit sie dich sehen kann. Sie möchte dich wirklich sehr gerne sehen.«
»Aber ich möchte sie nicht sehen.«
Mit Hilfe ihrer noch nicht ausgewachsenen Vorderpfoten zog Nia sich ein Stück voran, weiter nach oben, immer dem Himmel entgegen und der Sonne, die sich im Osten erhoben hatte.
»Wir beide wissen ganz genau, dass du das nicht ernst meinst.«
Trotzig wandte Nia den Blick ab. Sie hatte nichts mehr zu sagen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf das Klettern, vielleicht schaffte sie es ja noch weiter hinauf, wo sie nicht einmal mehr ihre Tante würde hören müssen. Mit großer Vorsicht hob Nia eine ihrer Pfoten an und streckte sie weit aus, um an die Felskante über ihr zu gelangen.
»Weglaufen wird deine Probleme nicht lösen«, sprach Ardhi laut und deutlich aber gleichzeitig verständnisvoll. »Du darfst dich nicht verschließen, das wird es nur noch schlimmer für dich machen. Du musst dich... Nia, Vorsicht!«
Eine von Nias Hinterpfoten war mit einem Mal abgerutscht, nachdem die kleine Löwin ihr zu viel Gewicht zugemutet hatte. Nia verlor nach und nach den Halt, verzweifelt kratzten ihre kurzen Krallen über den nackten Stein. Doch es war bereits zu spät. Sie würde fallen und sich alle Knochen brechen, so wie ihre Tante es prophezeit hatte.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...