Was ist Schmerz? Schmerz dient dem Körper als eine Form der komplexen Sinneswahrnehmung und kann in seinen Ausmaßen von lästig bis unerträglich variieren. Tatsächlich gilt es als bewiesen, dass seelischer Schmerz gleiche oder ähnliche Regionen des Gehirns anspricht wie körperlicher Schmerz und daher diesem von seiner Art und Intensität her sehr nahe kommen kann.
Samaha hockte vor dem schlaffen, leblosen Körper, der noch immer nach ihrer Freundin roch. Das Blut, das aus der klaffenden Wunde am Hals der Löwin geströmt war, war größtenteils geronnen oder von den kräftigen Sonnenstrahlen getrocknet worden. Ihre Augen starrten ins Nichts, leer und seelenlos. Samaha wollte es nicht glauben, doch nun, da sie sich vergewissert hatte, zerstreute sich jeder Zweifel.
Falsafa war tot. Getötet von fremden Eindringlingen, die nicht davor zurückgeschreckt waren, ihre Dominanz auf die skrupelloseste Art unter Beweis zu stellen. Trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten in der jüngeren Vergangenheit war Falsafa für Samaha stets eine Freundin gewesen. Der Verlust schmerzte sie sehr. Er führte der Löwin mit schockierender Ausdrucksstärke vor Augen, wie verlassen sie war. Ihre Selbstsicherheit und ihr Eifer hatten das Rudel nicht retten können, stattdessen hatte sie zugelassen, dass die Fremden schlimmer gewütet hatten als jeder Orkan.
Was nur Augenblicke sein mochten, erschien Samaha wie eine Ewigkeit, während sie starr und stumm auf dem sandigen Boden saß und apathisch auf den toten Körper starrte. Es war alles zu schnell an ihr vorübergezogen. Tazamajis Rückzug, das Erscheinen der Fremden wie aus dem Nichts, die kalten Worte des großen Löwen mit dem Milchauge und dann der Schlag. Samaha spürte seine Nachwirkung an ihrer noch immer pochenden Schläfe. Die Kraft des Fremden, der sich als Dhalimu vorgestellt hatte, war beängstigend. Und doch hatte der Schlag nicht ausgereicht, ihr das Leben aus dem Leib zu prügeln.
Aus dem Augenwinkel sah Samaha eine Löwin näherkommen. Sie wirkte verunsichert, beinahe erschrocken. Erst als sie zu erkennen schien, mit wem sie es zu tun hatte, trat sie vorsichtig heran.
»Samaha?« Erstaunen dominierte Nadharis von Trauer gezeichnete Züge. »Wir dachten, du wärest tot.«
»Nun«, entgegnete Samaha und sah zu der jüngeren Löwin auf. »Das dachte ich für kurze Zeit auch. Aber offenbar war das Schicksal der Meinung, es müsse mich noch einmal verschonen. Was auch immer es sich dabei gedacht hat.«
Ihr Blick glitt zurück auf den toten Körper zu ihren Pfoten. »Sie hatte weniger Glück.«
Zögerlich betrachtete Nadhari die Tote, wahrte dabei jedoch einige Schritte Abstand, als fürchtete sie sich vor ihr. Sorgsam beobachtete sie Samaha dabei, wie diese eine ihrer Pfoten auf Falsafas Flanke legte und sich respektvoll vor ihr verneigte.
»An dieser Stelle trennen sich unsere Wege, meine Schwester unter der Sonne. Mutter Natur wird einen neuen Pfad für dich finden. Ruhe in Frieden.«
Die Leere, die sich beim Anblick ihrer toten Kameradin in ihr ausbreitete, brannte wie eine klaffende Wunde. Samaha ahnte bereits, dass dies nicht das einzige Opfer war, das das Rudel an diesem folgenschweren Tag hatte erbringen müssen.
Nachdem sie die letzten Worte für Falsafa hinter sich gebracht hatte, wandte Samaha sich von der Toten ab und trabte hinüber zu der anderen Löwin, deren Blick noch immer auf dem regungslosen Körper haftete. Nadhari war jung, sie hatte nur wenige Male den Tod eines Rudelmitglieds miterlebt und in keinem der Fälle hatte es sich um einen derart gewaltsamen Tod gehandelt. Diese traurige Erfahrung war neu für sie. Was Samaha anging, sah das anders aus.
»Was ist mit den anderen?«, fragte Samaha, auf das Schlimmste gefasst. Sie musste wissen, was geschehen war, während sie bewusstlos im Dreck gelegen hatte. Sie fühlte sich für das Rudel verantwortlich, nun da Tazamaji es vorgezogen hatte, das Weite zu suchen.
»Imani und Shahidi sind bei Kimya und ihren Jungen«, berichtete Nadhari zögerlich. »Die Fremden halten sie im Versteck fest. Sie sagen, dass sie für jede weitere Löwin, die sich unerlaubt von den Schlafplätzen entfernt, eines der Jungen töten. Mich haben sie geschickt, um nach dir und Falsafa zu sehen. Sie haben gesagt, ich dürfe nicht zu lange wegbleiben, wenn mir etwas an meinem Rudel läge.«
Nadhari schluckte, ehe sie fortfuhr. Samaha entging nicht, dass eine ihrer Vorderpfoten nervös zuckte.
»Von Tambua, Yatima und Nia fehlt jede Spur«, fuhr die junge Löwin fort. »Wir vermuten, dass sie das Plateau verlassen haben und hinaus auf die Ebenen geflüchtet sind.«
»Was ist mit Ardhi?« Samaha wagte kaum zu fragen. Als sie Nadharis bedeutungsschweren Blick sah, wusste sie, dass sich ihre Befürchtung bewahrheitet hatte. Falsafa mochte eine Freundin gewesen sein, aber Ardhi war für sie mehr gewesen. Sie hatte eine Seelenschwester verloren.
»Imani hat ihren Körper am Fuß des Bergpfads gefunden. Es tut mir so Leid.«
Nadharis Stimme versagte und ihre Worte gingen in einem heiseren Schluchzen unter. Tröstend legte Samaha ihr die Pfote auf die Schulter und rieb ihre Schnauzen aneinander.
»Es wird alles gut«, sprach sie und spürte selbst, wie sich ihre Kehle zuschnürte. »Diese Mörder werden nicht noch einmal ihre Pfoten an ein Mitglied dieses Rudels legen. Dafür werde ich sorgen.«
Nadhari nickte bekräftigend. Tränen liefen ihre Wange hinab.
Man hatte Samaha ihr Leben lang eingeschärft, dass der Schutz der Jungen die bedeutsamste Aufgabe war, der sich die Löwinnen anzunehmen hatten, sobald sich Fremde innerhalb der Grenzen des Reviers befanden. Nie hatte jemand auch nur ein Wort darüber verloren, dass jene Fremden Jagd auf die erwachsenen Weibchen des Rudels machen und sie zur Strecke bringen könnten. Es ergab einfach keinen Sinn. Mit jeder getöteten Löwin fehlte dem Rudel eine Jägerin und mögliche Mutter von Nachkommen. Warum sollten die Eindringlinge darauf aus sein, das Rudel, das sie zu übernehmen planten, auszudünnen? Handelte es sich wirklich nur um eine entartete Form der Machtdemonstration? Oder steckte mehr dahinter?
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Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...