Ein Fluchtplan - Teil 2

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Sofort erwachte Samaha aus ihrer Starre. Es war wichtig, dass die Brüder nichts von ihrem Fluchtplan erfuhren. Der Versuch morgen würde vermutlich ihre einzige Chance darstellen, selbst wenn die Brüder sie verschonten, was unwahrscheinlich erschien. Es war schwierig genug gewesen, Kimya zu überreden, das Risiko, das mit einer Flucht verbunden war, einzugehen. So schnell würde sie ein solches Unterfangen ganz sicher nicht noch einmal wagen.

»Sorg' dafür, dass die anderen sicher an den Schlafplätzen ankommen«, wies Samaha ihre Gefährtin an. Daraufhin versuchte sie die Richtung zu bestimmen, aus der die Brüder sich näherten.

»Und du?«, fragte Imani, ihre Sorgen nicht länger überspielend.

»Ich werde mit Dhalimu sprechen.«

Mit diesen Worten nahm Samaha Anlauf und setzte mit einem Sprung über den Bach hinweg. Gekonnt landete sie im hellen Sand auf der anderen Seite. Sie ließ Imani und den Bach hinter sich und kletterte die leichte Böschung hinauf, die ihnen zuvor Deckung geboten hatte. Von dort aus konnte sie bereits die beiden Löwen erkennen, die sich schnellen Schrittes näherten.

Als Dhalimu Samaha erkannte, wies er seinen Bruder an, zu warten und trat selbst vor, um mit der Löwin zu sprechen. Wie so oft war sein Blick viel- und nichtssagend zugleich. Samaha spürte, dass sein Groll gegen die Löwinnen in keiner Weise nachgelassen hatte.

»Ich bin beinahe enttäuscht von euch«, begann er. »Euer kleines Ablenkungsmanöver wirkte ausgesprochen einfallslos. Ich kann kaum glauben, dass eine derart begnadete Jägerin auf so plumpe Mittel zurückgreift.«

Dhalimus Augen suchten die Böschung ab, als erwartete er dort die anderen Löwinnen des Rudels vorzufinden. Er schien sie zu wittern und zu ahnen, dass sie sich nicht ohne Grund hier versammelt hatten. Als er nicht fündig wurde, wandte er sich schließlich an seinen Bruder.

»Sieh zu, dass keiner von ihnen auf dumme Ideen kommt«, wies er den schweigsamen Löwen ungewöhnlich schroff an. Nicht einmal sein eigener Bruder schien von Dhalimus übler Laune verschont zu bleiben. Doch Bharid gehorchte widerstandslos und lief an Samaha vorbei die Böschung hinauf, um den anderen zu folgen. Dhalimu mochte ein gewissenloses Monster sein, aber im Gegensatz zu seinem Bruder hatte Samaha ihn inzwischen einzuschätzen gelernt. Bharid, der ihm in Sachen Brutalität und Mordlust in nichts nachzustehen schien, traute sie so ziemlich alles zu. Immerhin war er es gewesen, der im Gespräch, das Samaha während der vergangenen Nacht belauscht hatte, den Tod eines Rudelmitglieds gefordert hatte. Samaha hoffte innerlich, dass Kimya und Nadhari die Schlafplätze erreichten, bevor der Löwe sie einholte. Dann würde es vielleicht so aussehen, als ob die Mutter und ihre Jungen ihr Versteck niemals verlassen hatten.

Nachdem der Löwe außer Sicht war, nahm sich Dhalimu wieder Samahas an, indem er langsam und beständig auf sie zutrat, seinen massigen Körper bedrohlich vor ihr aufbauend.

»Ihr glaubt wohl, ihr könntet euch alles erlauben, was?«, sprach er, als ihn nur noch wenige Schritte von Samaha trennten.

»Du kannst uns nicht alle töten, so sehr du es dir auch wünschen magst«, entgegnete die Löwin eisern, nicht gewillt auch nur einen einzigen Schritt zurückzuweichen. Ihr Instinkt schrie sie förmlich an, die Gelegenheit zu nutzen, solange sie sich ihr darbot und dem Rudelführer an die Kehle zu springen, ehe dieser selbst zum Angriff überging. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass es alles andere als ratsam war, ihr Leben so leichtfertig wegzuwerfen.

Reiß dich zusammen, Samaha, redete sie sich selbst ein. Nur noch dieses eine Mal. Dein Rudel braucht dich!

Viel zu spät erkannte sie, was Dhalimu vorhatte.

»Ich kann alles und jeden töten!«, brüllte der Löwe. Dann stieß er sich mit überraschender Geschwindigkeit ab, sprang auf Samaha zu und rammte diese zu Boden.

Noch ehe die Löwin sich wieder aufrappeln konnte, war er bereits über ihr und sorgte ausgesprochen unsanft dafür, dass sie blieb wo sie war. Verzweifelt versuchte sie sich seinem Griff zu entwinden, doch je mehr Anstrengungen sie unternahm, desto fester drückte Dhalimu zu. Panik begann sich in ihr breit zu machen. Von einem Augenblick auf den nächsten war sie vollkommen überrumpelt worden, allein der Gnade eines mordenden Irren ausgesetzt.

»Siehst du diese Pfoten?«, fragte Dhalimu vor Zorn bebend und presste Samaha eine seiner mächtigen Vorderpranken gegen die Schläfe. Die Löwin schrie auf und wandte sich, als der Schmerz ihrer alten Wunde erneut aufflammte.

»Mit ihnen habe ich Dutzende deinesgleichen erschlagen. Bilde dir nicht ein, du wärst mir in irgendeiner Hinsicht voraus. Ihr seid mir völlig gleich, eine wie die andere. Aber eines schwöre ich dir...«

Einen kurzen Moment hielt der Löwe inne und sah Samaha direkt in die Augen. Sein trübes, geisterhaftes Auge war ihr näher als je zuvor und die Löwin meinte in ihm den vollkommenen Wahnsinn zu erkennen, der dieses Monster vor sich hertrieb wie ein Jäger seine Beute.

»Wenn auch nur eine von euch einen Fluchtversuch unternimmt, dann werdet ihr alle eine Art von Schmerz kennenlernen, die ihr euch nicht einmal in euren finstersten Träumen ausmalen könnt. Hast du mich verstanden?«

Samaha antwortete nicht. Die Schmerzen, die sich von ihrer Schläfe aus über ihren gesamten Körper ausbreiteten, raubten ihr beinahe das Bewusstsein. Vergeblich versuchte sie sich freizukämpfen.

»Hast du mich verstanden?«, fragte Dhalimu noch einmal mit Nachdruck.

Als Samaha auch darauf keine Antwort gab, hob er die Pranke zum Schlag aus. Gerade gelang es der Löwin, ihre Hinterpfoten freizukämpfen, als der Löwe mit aller Kraft auf sie einschlug.

Im nächsten Augenblick wich schlagartig jeglicher Schmerz aus Samahas Gliedern.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt