Mit trampelnden Hufen und gesenkten Hauern näherte sich das Warzenschwein. Entschlossen, ohne zu zögern, stürmte Angavu ihm entgegen. Nia, die kaum hinzusehen wagte, sah sich nach dem Jungen um, das gerade eben noch direkt vor ihr zwischen den Beinen seiner Mutter gekauert hatte. Jetzt war es wie vom Erdboden verschluckt. Sie konnte nur hoffen, dass es irgendwo zwischen den Sträuchern und Büschen Schutz gefunden hatte. Als die Löwin wieder zurück blickte, konnte sie gerade noch mit ansehen, wie Angavu dem wildgewordenen Schwein erneut auswich. Daraufhin nahm das Tier Tempo aus seinem Angriff und stapfte nun langsamer auf den Löwen zu. Es war beeindruckend, wie viel Mut und Entschlossenheit es bei der Verteidigung seines Nachwuchses aufbrachte.
»Mach, dass du hier wegkommst!«, rief Angavu Nia zu, das Warzenschwein nicht aus den Augen lassend. Seine geduckte Haltung und die ausgefahrenen Krallen machten deutlich, dass er bereit war, jedem Ansturm des Tieres eine Kostprobe seiner Fähigkeiten als Jäger und Kämpfer entgegenzusetzen.
Gerade wollte Nia etwas erwidern, da schnellte der Löwe plötzlich vor und grub seine Reißzähne tief in den Nacken des Warzenschweins. Das erschrockene Tier stieß ein markerschütterndes, schrilles Quieken aus, wie Nia es noch nie zuvor von einem Warzenschwein gehört hatte. Dann stieß es seine langen Hauer gegen Angavus Schulter. Vom Wühlen in der Erde waren die Hauer schon vor langer Zeit stumpf geworden und aus nächster Nähe, ohne den nötigen Schwung, erwies der Stoß sich als wenig wirkungsvoll. Als Angavu seinen Biss verstärkte, begann das Tier sich verzweifelt zu winden. Gekonnt packte der Löwe die Flanken des Schweins mit seinen Vorderpfoten. Was zunächst noch ernstzunehmender Widerstand gewesen war, ging allmählich in mutloses Zappeln über.
Anstatt auf Angavus Worte zu hören, hatte sich Nia dem Geschehen mit raschen Schritten genähert.
»Lass es gehen!«, befahl sie, mit einem dominanten Unterton, der sie selbst erstaunte.
Angavu, dessen Zähne noch immer den Nacken des Schweins umklammert hielten, sah sie verblüfft an. Seine Augen verrieten Ratlosigkeit.
»Sofort!«, fügte Nia hinzu. Ihre Pfoten bebten vor Anspannung. Sie suchte Angavus Blick und machte ihm deutlich, dass sie es ernst meinte. Doch der Löwe reagierte nicht. Stattdessen packte er nur kräftiger zu, das Genick des Tieres zwischen seinen Kiefern zerquetschend. Das Warzenschwein gab noch ein paar leise Laute von sich, dann sank es leblos in sich zusammen. Es verstrichen einige Momente in völligem Schweigen, bevor Angavu von dem toten Tier abließ und sich Nia zuwandte.
»Was ist los mit dir?«, schrie er sie an, wutentbrannt.
Überrascht und bestürzt von diesem plötzlichen Ausbruch, wich Nia zurück.
»Ich habe gerade dein verdammtes Leben gerettet!«
Nia war sprachlos, Angavus Worte hatten sie eingeschüchtert. Sie sah ihn an, wie er vor ihr stand, Zähne und Lefzen blutverschmiert, neben ihm der leblose Schweinekörper. In seiner Wut erkannte sie ihn kaum wieder.
»Sie... sie hätte mich nicht angegriffen«, stammelte Nia.
»Sie?«, hakte Angavu entgeistert nach, als konnte er nicht glauben, dass Nia in dem toten Warzenschwein mehr sah als eine überwundene Gefahr.
»Ich bin ihrem Jungen zu nah gekommen, das hat sie erzürnt«, bemühte die Löwin sich um eine Erklärung. »Sie wollte mich nicht angreifen, ich habe es in ihren Augen gesehen. Sie hatte große Angst.«
Angavu schüttelte sich.
»Du solltest dich mal reden hören«, sprach er ungläubig. »Jetzt meinst du schon, du könntest die Gedanken von Schweinen lesen.«
Seine harschen Worte ignorierend sah Nia sich nach dem Jungen um. Es war ganz gewiss noch irgendwo hier in der Nähe.
»Ich hoffe, es geht ihm gut«, sprach sie, mehr zu sich selbst als zu Angavu. "Ohne seine Mutter wird er es schwer haben, zu überleben.«
»Was interessiert es dich? Es ist nur ein Warzenschwein!«
Nia schwieg und wich Angavus Blick aus.
»Fang nicht wieder an, dich wegzudrehen!«, spie Angavu aus. »Sieh mich an! Rede mit mir!«
Doch sie wollte nicht mit ihm reden. Sie wollte alleine sein, weit weg von Angavu, dem Wald und allem anderen. Sie spürte, wie das Verlangen nach Einsamkeit in ihr wuchs.
»Falls es dich beruhigt«, sprach Angavu, weniger aufgebracht als zuvor. »Es war nicht seine Mutter.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Nia zweifelnd.
»Weil es verdammt nochmal ein Keiler war!«
Mit einem letzten, flüchtigen Blick auf Angavu wandte Nia sich ab und trabte fort vom See und in den Wald hinein. Es war erschreckend, wie von einem Augenblick auf den nächsten alles, was ihr lieb und teuer war, ins Wanken geriet. Mit einem Mal war der Wald nicht mehr der schützende Zufluchtsort, in den sie sich gerettet hatte. Nein, es war vielmehr eine Lüge. Dieser Ort war nicht ihre Heimat. Genauso wenig war Angavu ihr Retter. Er war lediglich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Wenn jemand sie retten konnte, dann war sie es selbst. Sie musste sich selbst vertrauen. Sich selbst und sonst niemandem.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...