Erinnerungen - Teil 2

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Ein Ruck fuhr durch Nias gesamten Körper, als Ardhi ihr Nackenfell mit den Zähnen zu packen bekam. Die erwachsene Löwin war in Windeseile vorgeschnellt und mit einem weiten Satz die Felsseite hinaufgesprungen, bis hin zu dem schmalen Vorsprung, auf dem Nia sich befand. Sie hatte ihre Nichte gerade noch rechtzeitig erreicht, bevor diese mit dem Rücken voran drei Schritt tief auf den harten Stein gestürzt wäre. Elegant stieß sie sich von der schrägen Felsoberfläche ab und landete mit einem Satz im trockenen Gras. Dort setzte sie die kleine Löwin zu ihren Pfoten ab. Von Schuldgefühlen geplagt, begann Nia zu wimmern und zu schluchzen.

»Es tut mir Leid. Ich wollte nur nach ganz oben... ich...«

»Ist schon in Ordnung«, sprach Ardhi mit einfühlsamer Stimme und ihre Schnauze streichelte sanft über Nias Rücken. »Es geht dir gut, das ist das Wichtigste.«

Ihre Tränen unterdrückend presste Nia ihre Schnauze tief in das weiche Fell ihrer Tante. Ihr Herzschlag ging schnell und sie stand noch immer unter Schock.

»Wie sieht es nun aus?«, fragte die ältere Löwin schließlich, nachdem Nia sich ein wenig beruhigt hatte. »Gehen wir jetzt deine Mutter besuchen? Ich bin mir sicher, dass sie sich sehr über deinen Besuch freuen wird.«

Nia schniefte und nickte. Doch ihre Augen verrieten eine Furcht, die so tief reichte wie die Wurzeln eines Baobab ins Erdreich greifen.

»Ardhi«, sprach sie und ihre Stimme wurde dünn und leise, kaum mehr als ein Flüstern, als würden ihre Worte allein etwas Verbotenes bedeuten. »Ich habe gesehen, wie sie stirbt.«

Nia wagte nicht aufzusehen aus Angst, Ardhi könnte sie auslachen.

Doch Ardhi lachte nicht. Sie war aufmerksam. »Wo hast du das gesehen?«

Nia stammelte weiter: »In meinem Traum. Da war dieses tiefe, schwarze Loch im Boden. Mutter ist in das Loch hinabgestürzt und hat geschrien. Sehr laut geschrien. Dann hat der Boden sie verschluckt.«

Ein Augenblick des Schweigens verstrich. Noch immer erklang deutlich das Zwitschern der Vögel von den Bäumen in der Nähe.

»Das war nur ein Traum«, erklärte Ardhi. Doch irgendetwas in ihrer Stimme war anders als zuvor. Sie schien nun sehr viel besorgter.

»Ardhi?«, fragte Nia vorsichtig und sah zu ihrer Tante auf. »Wirst du bei ihr bleiben? Den ganzen Tag und die ganze Nacht?«

»Sie ist meine Schwester. Ich würde ein Leben lang an ihrer Seite warten, wenn es nötig ist, um sie wieder gesund und munter zu sehen.«

Nia hatte verstanden. Sie nickte dankbar. Trotz ihres geringen Alters wusste sie, dass unter den Löwinnen des Rudels eine innige Beziehung bestand, die nicht so einfach zerbrach.

»Wirst du auch bei mir sein?«

Als Ardhi in Nias Augen sah, blickte sie tiefer in sie hinein, als es jemals eine andere Löwin getan hatte.

»Wann immer du mich brauchst.«

Nia lächelte schwach und schmiegte sich an Ardhis warmes Bein.

»Danke.«


»Nia?«

Nia schreckte hoch. Ihr Atem ging schwer und schnell, während sie nur langsam zur Besinnung kam. Sie lag noch immer an ihrem Schattenplatz zwischen des Felsen. Die Sonne hatte ein wenig an Kraft verloren und der Wolkenfetzen am Himmel hatte sich aufgelöst, ansonsten war die Welt um sie unverändert.

Als sie sich nach der Stimme umsah, die sie angesprochen hatte, erkannte sie Nadhari. Die Löwin kam vom Plateau aus auf sie zu.

»Verzeih mir, ich wollte dich nicht erschrecken.« Zögerlich blieb sie stehen und wartete ab, bis Nia sich erhoben hatte, ehe sie nähertrat. Von allen Löwinnen des Rudels war sie Nia am ähnlichsten, nicht nur was ihre Fellfarbe und die eher zierliche Gestalt anging, auch ihre vorsichtige und zurückhaltende Art stand Nia in nichts nach. Im Gegensatz zu Nia wurde sie von den anderen Rudelmitgliedern jedoch als geschickte und talentierte Treiberin geschätzt und war bei der Jagd unverzichtbar. Daher wunderte es Nia, dass sie nun hier war und nicht bei den anderen Jägerinnen, wo Nia sie zuletzt gesehen hatte.

»Ardhi sagte mir, dass ich dich hier finden würde, ich habe sie unterwegs getroffen«, sprach Nadhari und lächelte mild. »Es gibt gute Neuigkeiten, wir haben nicht weit von hier zwei Impalas erlegt. Es ist kein Festmahl, aber wenn du dich beeilst, bekommst du sicher noch etwas ab. Vorausgesetzt der Alte beansprucht nicht alles für sich.«

Der Alte war der Kosename, den die Löwinnen ihrem Rudelführer Tazamaji gegeben hatten und den sie nur dann benutzten, wenn er nicht anwesend war. Für gewöhnlich sicherte Tazamaji sich einen nicht gerade bescheidenen Teil der Beute, ließ den Löwinnen und ihren Jungen aber stets gerade genug, dass niemand auf die Idee kam, sich zu beschweren. Während der Jagd hielt er sich nicht selten schon in unmittelbarer Nähe auf, damit er rechtzeitig vor Ort war, nachdem der Wind den Geruch frischer Beute bis an seine Schnauze getrieben hatte.

»Ich kann dich hinführen, wenn du möchtest«, bot Nadhari an.

Doch Nia lehnte ab. Sie sagte, dass sie den Weg schon alleine finden würde, wenn sie dem Geruch folgte. Zunächst müsste sie sich dehnen, so wie die Löwinnen es für gewöhnlich nach dem Schlafen taten.

Die Wahrheit war jedoch, dass Nia wenig Appetit verspürte. Die Gedanken und Erinnerungen, die sie heimsuchten, ließen ihr wenig Gelegenheit sich auf etwas so banales wie Fressen zu konzentrieren. Hinzu kam, dass sie wenig Begeisterung verspürte bei dem Gedanken, noch einmal vor Imani, Falsafa und die anderen treten zu müssen. Sie fürchtete sich vor den verächtlichen und erniedrigenden Blicken und wollte sie heute nicht mehr auf sich gerichtet spüren. Lieber hungerte sie.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt