Nia war baff. Nie zuvor war sie auf die Idee gekommen, ihre Eindrücke allein auf ihre Sinne zurückzuführen. Sie war immer der Ansicht gewesen, es müsse eine äußere Kraft für all die seltsamen Dinge verantwortlich sein, die ihr im Laufe ihres Lebens widerfahren waren.
»Aber ich bin gestürzt...«, flüsterte sie ungläubig. »Während der Jagd. Es war so deutlich und überwältigend. Wieso sollte ich mir selbst soetwas antun?«
»Nun, du hattest offensichtlich eine sehr einschlägige Erkenntnis. Deine Sinne haben über einige Zeit hinweg Dinge wahrgenommen, die sich letztendlich in deinem Kopf zu einem Bild zusammengefügt haben. Ein Schrei. Der Geruch des Todes, den der Wind mit sich trägt. Manchmal genügen Kleinigkeiten, um eine Gefahr frühzeitig zu erkennen. Du hattest Zweifel, doch es hat genügt, um dich zu alarmieren. Das ist das Entscheidende.«
Fassungslos starrte Nia auf ihre Pfoten. Sie fühlte die Beschaffenheit des harten Bodens. Als sie die Augen schloss, konnte sie das leichte Heulen des Windes vernehmen, der über den Bergkamm zog. Und wieder dieser Geruch nach Hyäne. Als ob die widerwärtigen Biester unmittelbar hinter der nächsten Böschung lauerten und nur auf den Augenblick warteten, in dem die Löwen unaufmerksam wurden. Das alles verrieten ihr ihre Sinne. Aber das war doch nicht ungewöhnlich?
»Wie ich sagte, handelt es sich nur um Mutmaßungen«, sprach Mavunde. »Ich will nicht ausschließen, dass irgendwo auf einem der einsamen Berggipfel ein Löwe sitzt, der die Macht besitzt, die Sterne über den Himmel zu bewegen und der unser Schicksal bestimmt, indem er uns einen kleinen Teil unserer Zukunft vor Augen hält.«
»Vielleicht ist es so«, sprach Nia, ohne wirklich zu wissen warum. »Auch wenn wir es womöglich niemals erfahren werden.«
»Womöglich spielt es gar keine so große Rolle. Du musst nur lernen, mit dieser Gabe umzugehen und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Hast du in letzter Zeit ähnliche Visionen erlebt?«
»Nicht in dieser Form«, antwortete Nia, wieder ein wenig gefasster. »Aber meine Träume haben mir viel zu Denken gegeben.«
Mavunde wirkte interessiert. Er sah die Löwin nun direkt an, anstatt seinen Blick über das Plateau schweifen zu lassen.
»Was für Träume?«, fragte er. »Kannst du mir von ihnen berichten?«
Bevor sie zu sprechen begann, warf Nia einen Blick auf die anderen, insbesondere auf Angavu. Er war vermutlich zu weit entfernt, um ihre leise Stimme zu vernehmen, aber sie fühlte sich unbehaglich in dem Wissen, dass er sie beobachtete. Als sie jedoch erkannte, dass er seinen Blick abgewandt hatte, begann sie zögerlich zu erzählen.
»Die Träume sind einander sehr ähnlich. Ich stehe immer wieder vor dieser Höhle und starre in die schwarze Leere. Ich habe schreckliche Angst und doch treibt mich irgendetwas voran. Ich weiß nicht einmal, was es ist. Und dann ist da dieser Löwe... seine Augen sind trüb wie dichter Nebel, ganz wie das Auge von Dhalimu. Er versucht mich davon abzuhalten, die Höhle zu betreten.«
»Was findest du in der Höhle?«, fragte Mavunde.
Nia schluckte bei dem Gedanken an die unzähligen Fliegen und verfaulten Hyänen, die in ihren Träumen über sie hergefallen waren wie ein Rudel gieriger Räuber über ein verletztes Antilopenkalb.
»Nichts Gutes«, entgegnete sie nur knapp.
Mavunde schien die Antwort zu genügen, er hakte nicht weiter nach. Vielleicht verstand er, dass es Nia schwer fiel, über diese Dinge zu sprechen.
»Ich wünschte nur...«, begann Nia ihre Gedanken in Worte zu fassen. »Ich wünschte, ich hätte Ajalis Mut.«
»Ajalis Mut basiert einzig und allein auf Hass und Rachedurst«, erklärte Mavunde, seiner Missbilligung Ausdruck verleihend. »Von ihr ist kaum mehr als eine leere Hülle geblieben. Blind für alles andere sieht sie nur den Weg vor ihren Pfoten, ohne jegliche Alternativen. In ihrem Hass auf die Brüder befindet sie sich bestürzenderweise auf dem besten Weg, selbst zu einer von ihnen zu werden. Versuch nicht zu sein wie sie, du würdest nie wieder einen glücklichen Augenblick erleben.«
Sofort verspürte Nia einen Anflug von Scham für ihre Worte. Mavunde hatte recht: die grausamen Erfahrungen, die Ajali durchgemacht hatte, wünschte sie niemandem. Für sie selbst bestand immerhin noch eine erkennbare Chance, ihr Rudel wiederzusehen. Ajali hatte bereits alles verloren, was ihr jemals lieb und teuer gewesen war.
»Danke, dass du mir deine Gedanken anvertraut hast«, sprach Mavunde in die Stille hinein. »Ich denke, du solltest nun auch etwas Ruhe suchen. Wir werden uns noch vor Beginn der Dämmerung an den Abstieg machen und können deine Führung weiterhin gut gebrauchen.«
»Schläfst du nie?«, fragte Nia neugierig.
Mavunde wirkte erheitert angesichts der Frage. »Oh doch, auch ich brauche meine Ruhe. Aber nicht heute Nacht.«
Mit diesen Worten wandte er sich von Nia ab und erneut dem Plateau zu. Mit anmutig gehobenem Haupt und dem leichten Wind, der seine Mähne umspielte, stellte er einen ehrfurchterweckenden Anblick dar. Der edle Beschützer, immer wachsam in seinem Streben nach Gerechtigkeit.
Nia wusste, dass das Gespräch beendet war. Vorsichtig, darauf bedacht die anderen nicht zu wecken, schlich sie zurück zu ihrem Platz, wo sie sich auf dem felsigen Untergrund niederließ. Sie vermisste den weichen Waldboden. Hier würde sie keinen Schlaf finden, insbesondere nicht solange ihr der Gestank nach Hyäne in der Schnauze lag. Doch sie vertraute Mavunde.
Es mochte wahr sein, dass er sich weitestgehend in Schweigen hüllte, was seine Motive anging. Aber das änderte nichts daran, dass sie sich in seiner Gegenwart sicherer fühlte als sonst irgendwo. Solange er über sie wachte, würde ihnen nichts geschehen. Davon war sie überzeugt.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...