Am frühen Morgen erwachte Nia aus einem unruhigen Schlaf. Immer wieder hatten sich fremde, unheilvolle Empfindungen und Vorahnungen einen Weg in ihre Träume gebahnt und sie mehrfach panisch aufschrecken lassen. Dabei erschien es ihr, als würde die Grenze zwischen Traum und Realität mehr und mehr ver-schwimmen. Zwischenzeitlich hatte der Nebelschleier der fremden Traumwelt sich gänzlich über sie gelegt, selbst in jenen Momenten, in denen sie noch jetzt glaubte, wach gewesen zu sein.
Der aufkeimende Morgen versprach nun ein wenig Trost und Nia, obwohl müde und erschöpft, wagte es nicht noch einmal, die Augen zu schließen aus Angst, der schwarze Abgrund samt des bitterlichen und hasserfüllten Schreis würde sie sich schließlich voll und ganz einverleiben.
Als die Löwin sich erhob und einige Schritte zwischen den Felsen zurücklegte, fiel ihr auf, dass die anderen Löwinnen sich offenbar schon vor Dämmerungsbeginn auf die Jagd begeben hatten. Ardhi, die nicht weit entfernt von Nia gelegen hatte, hatte es offenbar vorgezogen, sie schlafen zu lassen. Ob sie wohl etwas bemerkt hatte von den Träumen, die Nia geplagt hatten?
Inmitten der Steinformation, nahe einer der größeren Felsen, gab es eine Mulde, halb natürlich, halb von den Löwinnen vergangener Generationen ausgebaut. Da sie stellenweise bis unter den massiven Stein reichte, bildete sie eine kleine Höhle, ein ideales Versteck für die Jungen des Rudels, die hier gut verborgen waren vor den gierigen Blicken der Hyänen und anderer Räuber, die sich hin und wieder auf das Plateau wagten.
Es war üblich, dass die Löwinnen ihren Nachwuchs alleine, abseits ihrer Gefährten zur Welt brachten und ihn erst dann dem Rudel vorstellten, wenn er alt genug war, auf vier Pfoten zu stehen. Von diesem Moment an war der Unterschlupf das neue Zuhause der Kleinen und blieb es solange, bis sie vom Rudel als vollwertige Mitglieder akzeptiert wurden. Zurzeit war Kimya die einzige Löwin mit Nachwuchs. Es war gerade einmal ein paar Tage her, dass sie zurück zum Rudel gestoßen war, im Schlepptau drei gesunde und muntere Junge. Derzeit blieb die junge Mutter immerzu bei ihnen. War sie doch einmal gezwungen, den Unterschlupf zu verlassen, um zu fressen oder zu trinken, so würde in der Zwischenzeit eine andere Löwin ein Auge auf die Kleinen werfen. So handhabte es das Rudel seit jeher.
Wie Nia vergangene Nacht erfahren hatte, war es heute an ihr, Kimya bei ihrer ständigen Wacht zu unterstützen. Was für die übrigen Löwinnen wie eine Strafversetzung wirken mochte, war für Nia ein wahrer Segen. Jede Tätigkeit, die sie von der Jagd und den harschen Angriffen der anderen fern hielt, nahm sie dankbar an. Zwar hatte sie, als eine der jüngsten Löwinnen des Rudels, bislang kaum Kontakt mit dem Nachwuchs anderer Rudelmitglieder gehabt, weshalb es ihr in dieser Hinsicht an Erfahrung fehlte, doch das störte sie nicht weiter. Sie war zuversichtlich, dass der Umgang mit den Kleinen wohl kaum würde schlimmer werden können als die gestrige Jagd. Außerdem war es eine gute Möglichkeit, weiter über die Ereignisse des vergangenen Tages nachzudenken und vielleicht endlich zu einer Entscheidung zu kommen, wie sie am besten vorgehen konnte.
Als Nia sich dem Unterschlupf näherte, bemerkte sie den markanten Geruch der Jungtiere. Gerade wollte sie in die Mulde hinabsteigen, da hielt sie inne. Unmittelbar vor ihr kam der Kopf eines Löwenjungen zum Vorschein, nicht größer als der eines kleinen Brüllaffen, wie Nia sie am Fluss gesehen hatte. Sein Fell war, anders als das der erwachsenen Löwen, besonders dicht und flaumig und über der kurzen Schnauze saßen zwei runde schwarze Augen, die Nia mit einer Mischung aus Neugier und Erstaunen ansahen. Für einen kurzen Augenblick starrte die Löwin geradewegs zurück. Dann setzte sie ein etwas unsicheres Lächeln auf. Das Junge war offenbar drauf und dran gewesen, sich mit seinen winzigen Pfoten den Rand der Mulde hinaufzuarbeiten.
Eine trächtige Löwin bringt nach einer Tragzeit von etwa vierzehn Wochen in der Regel zwischen ein und vier Junge zur Welt. Die Kleinen wiegen anfangs knappe zwei Kilogramm, ihre Augen öffnen sie erst nach etwa zehn bis fünfzehn Tagen.
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Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...