Tränen standen Nia in den Augen, während sie auf direktem Weg zurück zu den Schlafplätzen lief. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass Ardhi, ihre einzige Freundin, sie so brüsk abgewiesen hatte. Nia war klar gewesen, dass es schwierig werden würde, alle Rudelmitglieder von der nahenden Bedrohung zu überzeugen, aber dass Ardhi ihr nicht einmal richtig zuhören wollte, damit hatte sie nicht gerechnet. Wenn Ardhi doch nur verstehen würde. Wenn sie das gesehen hätte, was Nia offenbart worden war. Sie hätte ganz sicher genauso wie Nia gehandelt. Sie hätte ihr dabei geholfen, die anderen zu erreichen und sie alle hätten der fremden Gefahr gemeinsam entgehen können.
Aber was nun? Was würde mit ihnen geschehen? Würden sie alle in den tiefen Abgrund stürzen, so wie Nia es in ihrer Vision gesehen hatte? Würde der Löwe des Berges ihnen seine Hilfe verweigern, da sie nicht auf ihn gehört hatten?
Nia wurde langsamer. Sie konnte die Strecke einfach nicht mit derselben Geschwindigkeit zurücklegen, mit der sie hierher geeilt war. Sie musste zumindest ein wenig verschnaufen und sich darüber klar werden, was sie nun tun konnte. Zum Glück hatte sie nicht lange gebraucht, um Ardhi aufzuspüren. Vielleicht war es das Beste, zunächst zu Kimya und ihren Jungen zurückzukehren. Dort konnte sie über ihr weiteres Vorgehen nachdenken. Hätte Ardhi ihr doch nur Glauben geschenkt.
Erschöpft verfiel Nia in einen gemächlicheren Trott, das Maul halb geöffnet, um möglichst viel Luft einzuziehen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht alleine war. Jemand war ihr gefolgt.
Als sie sich umsah, erkannte sie einen massigen Körper, wie er nur zu einem männlichen Löwen gehören konnte. Der alte Tazamaji trat zwischen den Bäumen hervor, seinen Blick geradewegs auf Nia gerichtet. Man sah ihm an, dass das Laufen ihn Kraft gekostet hatte. Als er sah, dass die Löwin angehalten hatte, wurde auch er langsamer. Schließlich blieb er mit einigen Schritten Abstand zu Nia stehen und musterte sie eingehend.
»Wo soll es denn hingehen?«, fragte er ungewohnt freundlich. »Willst du gar nicht mit den anderen Löwinnen jagen?«
Nia spürte eine befremdliche Anspannung in sich aufsteigen. Es war ihr unangenehm, hier draußen mit dem Rudelführer allein zu sein und sie hoffte, dass er ihr nicht noch näher kommen würde.
»Ich... ich bin auf dem Weg zurück. Ich helfe Kimya dabei, nach ihren Jungen zu sehen.«
»Ist das so?«
Nia konnte wenig Aufrichtigkeit im Lächeln des alten Löwen wiederfinden. Als er auf sie zu kam, wich sie instinktiv einen Schritt zurück. Sofort hielt er inne.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, mein Kind, ich würde dir niemals etwas antun. Mir gefällt es, dass du der Mutter bei der Aufzucht hilfst. Was ist wichtiger für ein Rudel als seinen Nachwuchs zu versorgen und zu beschützen? Denkst du nicht auch, dass das an aller erster Stelle stehen sollte?«
Obwohl Nia vor Scham ihren Blick abgewandt hatte, spürte sie ganz genau, wie Tazamaji sie sorgfältig von oben bis unten betrachtete. Aus dem Augenwinkel meinte sie zu erkennen, wie er sich gierig die Zähne bleckte, als würde er eine frisch erlegte Antilope vor sich haben.
»Sieh an«, fuhr er fort und trat noch einen Schritt heran. »Wie sehr du dich doch verändert hast. Es ist nicht lange her, da warst du noch ein kleines Mädchen. Und nun... nun bist du erwachsen. Eine stolze Löwin.«
Nia wagte es nicht, sich zu rühren als Tazamaji an sie herantrat und seine Schnauze über ihren Rücken streichen ließ, bis hin zu ihrem Nacken. Ein kalter Schauder lief durch ihr Fell.
»Bitte«, sprach sie, beinahe flehend. »Ich möchte das nicht.«
»Aber warum denn nicht?« In Tazamajis Stimme schwang gespielte Fürsorge mit, während er begann, routiniert mit seiner Zunge Nias Hals und Schulter zu lecken.
Es mochte nicht das erste Mal sein, dass er Interesse für Nia zeigte, aber so weit war er bisher nie gegangen. Angst stieg in Nia auf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Ardhi ihr zu Hilfe kommen würde. Und doch wagte sie es nicht, nach ihr zu rufen.
Erst als Tazamaji sein Gewicht nutzte, um sie auf die Erde zu drängen, reagierte Nia. Widerwillig begann sie sich zu winden, doch das veranlasste Tazamaji nur, seinen Griff um sie zu verstärken, bis Nia vor Schmerzen die Zähne zusammenbiss. Unter seinem schweren Körper und zwischen seinen stämmigen Beinen war sie wie gefangen.
»Ganz ruhig«, flüsterte er in ihr Ohr. »Es dauert nicht lange.«
Mit einem Ruck schwang Nia sich herum und schlug mit ihrer Pfote nach Tazamajis Gesicht. Ihre Krallen schnitten durch Haut und Fleisch und rissen Büschelweise Fell aus. Reflexartig sprang der Rudelführer zurück und keifte, wobei er sich mit einer Vorderpfote die frische Wunde hielt. Es war kein gefährlicher Schnitt, aber er würde ganz sicher eine gut erkennbare Spur hinterlassen.
»Bist du von Sinnen, Mädchen?«, brüllte er.
Geschockt von ihrer eigenen Handlung wich Nia mehrere Schritte zurück. Ihre Beine bebten so sehr, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte. Blut klebte an ihren Krallen.
»Warum hast du das getan?« Tazamajis zorniger Blick durchbohrte die junge Löwin förmlich. »Ich rieche doch, dass du bereit bist! Bin ich dir etwa zu alt? Ist es das?«
»Nein«, entgegnete Nia kleinlaut, die Kehle wie zugeschnürt. »Das ist es nicht.«
»Was ist es dann?« Die Stimme des Rudelführers schwoll zu einem Brüllen heran. »Sag es mir!«
Gelähmt von immer neuen Panikanflügen war Nia unfähig zu antworten. In der sicheren Erwartung einer harten Strafe für ihr Fehlverhalten begann sie zu weinen.
»Sag es mir!«, wiederholte Tazamaji noch einmal mit Nachdruck.
Als die Antwort noch immer ausblieb, sprang er vor, um Nia zu packen. Doch Nias Instinkte schalteten sich augenblicklich wieder ein. Ihre Pfoten stießen die Löwin vom Boden ab und katapultierten sie voran. Tazamaji streifte lediglich einen ihrer Hinterläufe. Das genügte nicht, um sie aufzuhalten. Nia strauchelte kurz, fing sich jedoch wieder und rannte davon, so schnell ihre Beine sie trugen. Ohne Richtung und ohne Ziel floh sie vor dem unbändigen Zorn ihres Rudelführers. Sie wagte nicht einmal zurückzublicken, um festzustellen ob Tazamaji ihr noch immer folgte.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...