Die Jungen - Teil 1

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Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Samaha zu den Schlafplätzen zurückkehrte. Das erste, was ihr auffiel, war die Tatsache, dass keiner der beiden Brüder auf einem der Felsen thronte und Ausschau hielt, wie sie es so gerne taten. Das allein war bereits merkwürdig und beunruhigend genug und ließ Samaha zögern und ihre jüngste Entscheidung ein weiteres Mal überdenken.

Die ganze Nacht und den Morgen hatte sie auf dem Plateau verbracht, eingerollt unter den Ästen einer breitgewachsenen Schwarzdornakazie, wachsam, immer ein Auge offen haltend. Nachdem die beiden Brüder sie in der vergangenen Nacht beim Belauschen ihres Gesprächs entdeckt hatten, hatte sie nicht lange gewartet, sondern war um ihr Leben gerannt, weit hinaus auf das Plateau, bis ihr der Atem ausgegangen war. Sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob die beiden Löwen sie verfolgt hatten oder gar wann sie die Verfolgung abgebrochen hatten, so vehement hatte die schiere Panik sie vorangetrieben. Doch es bestand kein Zweifel daran, dass sie Samaha gesehen hatten. Dhalimu hatte ihr direkt in die Augen geblickt, er musste sie erkannt haben, selbst im Dunkeln zwischen den Gräsern. Und abgesehen davon hatten sie sie gewittert. Ihren Geruch würden sie ganz bestimmt wiedererkannt haben.

Viel hätte nicht gefehlt und Samaha wäre hinaus auf die Ebenen geflohen und niemals zurückgekehrt. Es hatte sie ein gutes Maß an Überwindung gekostet, schließlich doch umzukehren. Grund dafür waren die Worte, die sie mitangehört hatte und die sie zutiefst schockiert hatten. Seit ihrer ersten Begegnung mit Dhalimu und dessen Bruder war ihr bewusst gewesen, dass diese beiden wenig für das Wohl der Löwinnen und ihrer Jungen übrig hatten. Doch war sie bislang fest davon überzeugt gewesen, dass die Brüder trotz all ihrer Härte und Grausamkeit letztendlich das selbe Ziel verfolgten wie Tazamaji vor ihnen, dass sie das Rudel übernommen hatten, um als Rudelführer über die Löwinnen zu herrschen und sich fortzupflanzen, um eigene Generationen nach ihrem Abbild zu schaffen. Nun jedoch war Samaha klar, dass sie sich getäuscht hatte. Die Löwen hatten ein anderes Ziel, sie schienen jemanden zu suchen, auch wenn Samaha nicht verstand wen oder warum.

Eines war ihr jedoch nicht entgangen: die Brüder waren bereit über Leichen zu gehen, sie würden jede einzelne Löwin töten, wenn sie das ihrem Ziel nur ein Stück näher brachte. Oder vielleicht nicht einmal deshalb. Möglicherweise würde es die schiere Lust am Töten sein, die Samaha und ihre Freundinnen schließlich das Leben kosten würde.

Diese entsetzlichen Gewissheiten plagten Samaha und ließen sie nicht mehr los, wie ein Räuber, der seine Beute gepackt hielt, um sie zur Strecke zu bringen. Das Beste wäre gewesen, einfach davonzulaufen. Und doch... sie konnte sich einfach nicht abwenden. Sie konnte dem Rudel nicht den Rücken kehren in dem Wissen, dass ihre Schwestern ein so finsteres Schicksal erwartete. Es wäre nicht richtig gewesen. Sie war in dieses Rudel geboren worden, hatte ihr ganzes Leben am Fuß der Berge zugebracht. Sie war ein Teil des Ganzen. Vielleicht mochten Tambua, Yatima und die junge Nia fern von hier ein neues Zuhause gefunden haben. Für Samaha war Flucht niemals eine wirkliche Option gewesen. Sie lebte als Teil des Rudels und sie würde als ein Teil von ihm sterben, wenn das der Wille Mutter Naturs war.

Der Gedanke trieb sie an und ließ sie ihre Schritte beschleunigen, als sie auf die aufragenden Felsen zuhielt. Letztendlich blieb noch die geringe Hoffnung, dass weder Dhalimu noch Bharid sie in der Finsternis erkannt hatten. Doch selbst in diesem Fall wussten sie, dass es eine der Löwinnen gewesen war, die sie belauscht hatte und dass diese Löwin nun über ihr bislang gut gehütetes Geheimnis Bescheid wusste.

Als Samaha zwischen die Felsen trat, bemerkte sie die ungewöhnliche Stille, die über dem Ort lag. Von nirgendwo her drang, wie sonst üblich, das tiefe Atmen eines schlafenden Löwen an ihr Ohr. Während sie sich ihren Weg zwischen den Felsen hindurch bahnte, wuchs ihre innere Unruhe ins Unermessliche. Wo waren sie?

Mit einem Mal überkam Samaha ein kalter Schauder und trieb sie zur Eile an. Sie machte erst Halt als sie den Unterschlupf erreicht hatte, in dem Kimya ihre Jungen geschützt hielt. Zunächst wagte sie es nicht, einen Blick hinab in die kleine Höhle zu werfen aus Angst vor dem, was sie dort möglicherweise vorfinden würde. Als sie es doch tat, beruhigte es sie in keiner Weise.

Die Höhle war leer, keine Löwin, keine Jungen. Niemand.

Seitdem die Brüder das Rudel übernommen hatten, hatte Kimya ihre Jungen nur einige wenige Male aus der Geborgenheit des Unterschlupfs geführt. Ihre Furcht vor den Rudelführern war mit der Zeit so sehr gewachsen, dass Shahidi und Samaha sie zuletzt mit eiserner Geduld hatten überreden müssen, auch nur eine Pfote ins Freie zu setzen. Und nun war sie verschwunden und die Kleinen mit ihr.

Samaha spitzte die Ohren, als ihr mit einem Mal ein Laut auffiel, den sie zuvor nicht wahrgenommen hatte. Augenblicklich wandte sie sich herum und sah Dhalimus mächtige Gestalt zwischen den Felsen hervortreten. Er hatte sich gegen den Wind genähert und hielt mit gleichmäßigen Schritten geradewegs auf die Löwin zu.

»Suchst du etwas?«, fragte er mit einem unterschwelligen Tonfall, den Samaha als ein unverkennbares Zeichen von Misstrauen deutete.

»Ich...«, begann Samaha, sich eine Erklärung zurechtlegend.

»Du solltest nicht hier sein.«

Samaha schluckte, wich jedoch nicht zurück, als der große Löwe nur wenige Schritte vor ihr zum Stehen kam. Mit raschen Blicken inspizierte sie seine Zähne und Krallen nach Spuren von frischem Blut, Hinweise auf eine gerade erst begangene Gräueltat.

Dhalimu schien seinerseits die Löwin genau unter die Lupe zu nehmen.

»Warum bist du nicht mit den anderen auf der Jagd?«

Samaha zögerte. Wenn Dhalimu Bescheid wusste, warum spielte er dann dieses Spiel mit ihr? Wollte er, dass sie sich in Sicherheit wähnte?

»Ich habe nur nach dem Rechten gesehen«, entgegnete sie, sich der Armseligkeit ihrer Ausrede bewusst.

»Ist das so?«

Der Blick des Löwen war unlesbar, doch seine Stimme ließ Samaha die Nackenhaare zu Berge stehen. Lange würde sie nicht mehr durchhalten, das war gewiss. Aber dieses Mal hatte sie nicht vor, zu fliehen. Ihre Entscheidung hatte sie längst getroffen. Instinktiv grub sie ihre Krallen in die Erde, bereit Dhalimus Attacke mit einem würdigen Gegenangriff entgegen zu treten, an den sich der Löwe noch lange erinnern würde. Bei ihrer ersten Begegnung auf dem Plateau hatte er sie überrascht. Das würde nicht noch einmal geschehen. Ihr Blick war fest auf seine Pfote fixiert. Sie meinte bereits erkennen zu können, wie die mächtigen Muskeln sich anspannten, gerüstet für den Erstschlag. Sie musste ihm zuvorkommen, ihre Geschwindigkeit und Agilität waren die Stärken, auf die sie setzen konnte. Wenn sie diesen Trumpf geschickt ausspielte, dann hatte sie vielleicht eine Chance. Sie musste lediglich...

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt