Tote Augen tragen leere Blicke - Teil 2

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Instinktiv fuhr Nia herum. Die fremde Stimme kam aus nächster Nähe, von oberhalb des Felsvorsprungs, unter dem sie bis eben noch gelegen hatte. Dort, etwa drei Schritt über dem Erdboden lag ein Löwe auf dem kargen Fels.

Nia erkannte sofort, dass es sich um keinen der beiden Eindringlinge handelte, die das Rudel angegriffen hatten. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass der fremde Löwe einen vertrauenswürdigen Eindruck machte. Im Gegenteil, seine Mähne wirkte wild und zerzaust und seine Zähne formten ein hämisches Grinsen, während er Nia von oben herab mit stechendem Blick interessiert musterte.

»Schon' dich lieber«, sprach er. »Wär' doch schade, wenn dein hübscher Körper sich noch mehr Blessuren einfängt, nicht wahr?«

So gut es ihr gelang, rappelte Nia sich auf und wich augenblicklich mehrere Schritte zurück, ohne den Fremden dabei aus den Augen zu lassen. Dabei gab sie sich alle Mühe, ihre Unsicherheit zu überspielen. In ihrer momentanen Verfassung war sie nicht in der Lage davonzulaufen. Würde sie es doch versuchen, würde der Fremde sie vermutlich rasch eingeholt haben, noch bevor sie sich irgendwo verstecken konnte.

»Ich habe schon gehofft, dass du gar nicht mehr zu dir kommst«, sprach der Löwe zynisch. »Dann hätte ich die Gazelle für mich alleine gehabt.«

Da eine Flucht für Nia ausgeschlossen war, versuchte sie sich angestrengt an das zu erinnern, was Ardhi ihr über die Begegnung mit Fremden gesagt hatte, eine Situation, die für Nia bislang unbekannt war. Niemals Schwäche zeigen, das waren ihre Worte gewesen. Versuche deine Angst für dich zu behalten.

»Was macht eine so junge Löwin ganz allein hier im Hochland?«, fragte der Fremde. »Wo ist dein Rudel? Hast du dich verlaufen?«

Nia antwortete nicht, stattdessen beobachtete sie angespannt jede noch so kleine Bewegung des Fremden.

»Was ist los mit dir?«, sprach er auffordernd. »Bist du stumm?«

Als der Löwe seine Pfoten ruckartig übereinander schlug, zuckte Nia vor Schreck zusammen. Das schien er zu bemerken und verlangsamte seine Bewegungen.

»Ist ja gut, du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Wenn ich dir etwas hätte antun wollen, hätte ich es schon längst getan, glaub mir. Du hast immerhin den halben Tag hier rumgelegen wie ein verrottendes Stück Aas.«

»Ich habe keine Angst«, entgegnete Nia knapp und nicht annähernd so selbstbewusst wie sie gehofft hatte. Es war vermutlich die größte Lüge, die sie in ihrem bisherigen Leben über die Lippen gebracht hatte. Auch das schien dem Fremden nicht zu entgehen.

»Natürlich nicht«, sprach er und zeigte erneut sein spöttisches Grinsen. Dann deutete er mittels eines Kopfnickens auf den Kadaver vor Nias Pfoten.

»Iss etwas, du musst wieder zu Kräften kommen. Spätestens wenn die Dämmerung einsetzt, kommen die Hyänen aus ihren Löchern gekrochen. Dann möchtest du nicht mehr hier sein.«

Vorsichtig, den Fremden nicht gänzlich aus den Augen lassend, riskierte Nia einen weiteren Blick auf die tote Gazelle. Misstrauen stieg in ihr auf.

»Wer hat sie erlegt?«, fragte sie unsicher. »Warst du das?«

»Nun, wir können wohl davon ausgehen, dass sie sich nicht selbst erwürgt hat. So leicht machen sie es uns Jägern für gewöhnlich nicht.«

Noch immer sorgte der Anblick der Gazelle für ein flaues Gefühl in Nias Magengegend. Doch die Löwin musste sich eingestehen, dass der Fremde nicht ganz Unrecht hatte, was ihre Verfassung anging. Ihre Flucht vom Plateau hatte sie ausgelaugt und ihre letzten Kräfte geraubt. Obwohl sie nicht vorherzusehen wagte, was mit ihr geschehen würde, erschien es ihr durchaus wichtig, dass sie etwas Fressbares fand, wenn sie vorhatte zu überleben. Und wer wusste schon, wann sich ihr die nächste Gelegenheit dazu bieten würde.

Während sie noch darüber nachdachte, spürte sie wie das flaue Gefühl in ihrem Magen wich und nach und nach einem zehrenden Hunger Platz machte. Der Gedanke, dass der Fremde die ganze Zeit neben ihr gehockt und sie beobachtet hatte, während sie wehrlos und zusammengekauert zwischen den Felsen gelegen hatte, jagte ihr einen wahren Schauder über den Nacken.

Aber wenn er ihr nicht helfen wollte, warum legte er ihr dann seine Beute vor sie Schnauze?

Der Löwe schien Nias Zweifel zu bemerken. Er erhob sich von seinem Platz und streckte sich, indem er die Vorderbeine lang machte und seinen Rücken durchdrückte. Dann trat er bis an den Rand des Vorsprungs, zielte kurz und sprang mit einem eleganten Satz zu Nia herab. Da er längst nicht so grob und schwerfällig gebaut war wie Tazamaji, waren seine Beine in der Lage, die Landung elegant abzufedern.

Als der Fremde auf Nia zutrat, wich sie instinktiv zurück. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Erst als er die tote Gazelle erreicht hatte, blieb er stehen und warf Nia einen erwartungsvollen Blick zu.

»Riechst du nicht, wie frisch sie ist?«, fragte er und sog den Geruch tief ein. »Komm her, der erste Biss gehört dir!«

Als er bemerkte, dass Nia keine Anstalten machte, sich vom Fleck zu rühren, trat er zurück und gab die Beute damit frei.

»Ein wenig Dankbarkeit wäre angebracht«, sprach er und legte sich wieder hin, diesmal nur einige Schritt weit von Nia entfernt. »Immerhin habe ich hier auf dich aufgepasst, während du im Reich der Träume unterwegs warst.«

Nia zögerte. Die Nähe des Fremden machte sie nervös. Ihr Instinkt befahl ihr zu fliehen, doch ihr Verstand sagte ihr, dass es zu ihrem Besten war, dem Löwen zu gehorchen. Ihn zu verärgern war vermutlich wenig ratsam. Noch wirkte er gelassen, aber niemand konnte sagen, wie er reagieren würde, wenn sie sich weigerte, seinen Aufforderungen nachzukommen.

Langsam und mit Beinen weich wie aufgequollene Erde trat sie vor, den Fremden nicht aus den Augen lassend. Als sie den Gazellenkörper erreicht hatte, setzte sie zaghaft eine ihrer Vorderpfoten auf das weiche Fell. Ein letztes Mal zögerte sie noch, dann grub sie ihre Reißzähne schließlich in die Flanke des toten Tieres. Blut quoll hervor, dort wo ihr Biss die Haut des Beutetieres durchtrennte. Mit einiger Kraft gelang es ihr, ein sehniges Stück Fleisch aus dem Körper herauszureißen. Mit dem Fleischbrocken im Maul trat sie von der Gazelle zurück, legte sich auf den felsigen Boden und begann das Stück mit ihren Zähnen weiter zu zerkleinern.

Bei all dem ließ der Fremde sie nicht aus den Augen. Er schien jede ihrer Bewegungen bis ins kleinste Detail zu beobachten, was der Löwin deutliches Unbehagen bereitete.

»Wie lautet dein Name?«, wollte er wissen, nachdem Nia den letzten Bissen ihres Happens geschluckt hatte.

»Nia«, antwortete sie tonlos.

»Nia.« Der Fremde ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Ein guter Name, kurz und einprägsam. Sag mir, Nia, was hast du als nächstes vor? Möchtest du dein Rudel wiederfinden?«

Das war eine gute Frage. Nia hatte gesehen, wie die fremden Angreifer eine Löwin nach der anderen zu Fall gebracht hatten. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass alle Löwinnen des Rudels ihnen zum Opfer gefallen waren. Nein, es musste jemand überlebt haben. Vielleicht suchten sie sogar schon nach ihr. So sehr sich Nia auch davor fürchtete, auf das Plateau zurückzukehren, sie musste es riskieren. Hier draußen war sie verloren.

Bevor sie antwortete, legte Nia sich ihre Worte sorgsam zurecht.

»Ich danke dir für deine Hilfe. Ich muss jetzt gehen, zurück auf das Plateau.«

»So?« Der Fremde beäugte Nia abschätzend. Irgendetwas sagte ihr, dass in seinem Kopf weit mehr vorging, als er nach außen zeigte. Ein beunruhigendes Gefühl beschlich Nia. Wer war dieser Löwe? Würde er sie gehen lassen?

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt