Es war bereits tiefe Nacht, als Nia aus ihrem unruhigen Schlaf aufschreckte. Das erste, was ihr auffiel, war die düstere Wolkendecke, die am Nachthimmel aufgezogen war und nun das Licht von Sternen und Mond verdeckte. Derweil trug der Ostwind eine ungewöhnliche Kühle heran.
Als die Löwin sich mit verschwommenem Blick umsah, stellte sie beunruhigt fest, dass etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen. Mavunde war verschwunden. Er thronte nicht mehr an seinem Platz auf der leichten Anhöhe, noch war er sonst irgendwo auszumachen. Es war, als hätte der Erdboden ihn ohne einen Laut verschluckt. Angavu und die beiden anderen Löwen hingegen schienen noch immer zu schlafen. Keiner von ihnen hatte sich von der Stelle bewegt.
Leise, um die anderen nicht zu wecken, flüsterte Nia Mavundes Namen in den Wind und horchte. In der Ferne konnte sie das Zirpen einiger Grillen vernehmen, doch ansonsten war es still. Das ungute Gefühl, das sie beschlich, wuchs weiter an, während Nia sich vorsichtig aufrichtete. Um besser über Hügel und Felsen hinwegspähen zu können, betrat sie die kleine Anhöhe, auf der sie sich zu Beginn ihrer Rast mit Mavunde unterhalten hatte. Noch immer konnte sie nirgendwo eine Spur des weißen Löwen ausmachen.
Er hatte versprochen, Wache zu halten. Was konnte ihn nur dazu veranlasst haben, dieses Versprechen zu brechen?
Nia erschauderte. Da war er wieder, der abstoßende Gestank nach Hyäne, deutlicher als je zuvor. Es schien, als ob die Biester in unmittelbarer Nähe lauerten. Die Dunkelheit bot ihnen zusätzlichen Schutz, selbst vor den Augen einer Raubkatze. Mit wachsender Besorgnis malte Nia sich aus, wie sie bereits den Kreis um die kleine Gruppe von Löwen enger schlossen. Jeden Augenblick konnten sie zuschlagen.
Vermutlich wäre es vernünftig gewesen, die anderen zu wecken, das war Nia bewusst. Sie war sogar bereits drauf und dran eine laute Warnung auszusprechen, als mit einem Mal ein Detail ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und sie verstummen ließ, noch ehe sie einen Ton von sich gegeben hatte.
In der Finsternis, etwas mehr als fünfzig Schritt in Richtung Bergkamm, meinte sie wage die Umrisse eines Löwen zu erkennen. Zunächst glaubte Nia noch, einer Täuschung zu unterliegen, einem Streich, den ihre angeregte Fantasie ihr spielte. Die Felsen hier im Hochland waren zuweilen merkwürdig geformt und es wäre nicht das erste Mal, dass Nia etwas zu erkennen glaubte, das nicht existierte. Doch je mehr sie sich konzentrierte, desto sicherer war sie, dass die Gestalt vor ihren Augen echt wahr. Sie erkannte deutlich Körper und Mähne des Löwen, der wie erstarrt zwischen den aufragenden Steinkanten stand. Es konnte sich nur um Mavunde handeln. Doch was tat er so weit von der Gruppe entfernt?
Die Ohren wachsam gespitzt, trat Nia langsam auf den Löwen zu, dessen schemenhafte Gestalt sie längst in ihren Bann gezogen hatte. Sie war noch nicht weit gekommen, als er sich plötzlich abwandte. Leise wie ein Schatten schlängelte er sich zwischen den Felsen hindurch, bis er mit einem Mal Nias Blick entschwunden war.
Nia hielt inne. Allmählich begann sie an der Identität des Löwen zu zweifeln. War es möglich, dass sich in Mavundes Abwesenheit ein anderer Löwe unbemerkt der Gruppe genähert hatte?
Ein ungutes Gefühl machte sich in Nias Magengegend breit und daran war nicht allein der allgegenwärtige Hyänengestank schuld. Mit einem Mal fühlte sie sich an den rätselhaften Unbekannten erinnert, der sie in ihrer letzten Nacht hier oben im Vorgebirge aufgesucht hatte. War es möglich, dass der geheimnisvolle Fremde zurückgekehrt war? Warum beobachtete er Nia? Was wollte er von ihr?
»Ich träume«, flüsterte die Löwin sich selbst zu. »Dies hier ist nichts anderes als ein weiterer Traum. Es gibt keinen mysteriösen Fremden.«
Doch so sehr sie sich Mut zusprach, umso stärker wuchsen auch ihre Zweifel. Die Unterschiede waren zu deutlich. In ihren Träumen waren Erde und Himmel stets lebendig gewesen. Die Sterne hatten sich in langen, gleißenden Bahnen über die Welt hinweg bewegt und glühende Streifen zurückgelassen. Von all dem war nun nichts zu sehen, nur dunkle Wolken und nackter Fels.
DU LIEST GERADE
Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...