Der Abgrund - Teil 2

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Als Ardhi erkannte, dass das Reden nicht half, begann sie an Nias Nacken zu zerren, um sie zum Gehen zu bewegen. Das zeigte Wirkung. Nia schüttelte sich, um den Nebelschleier, der sie eingehüllt hatte, abzuwerfen. Gerade noch rechtzeitig sah sie, dass der Fremde von Falsafa abgelassen hatte und nun direkt auf sie zukam. In dem festen Wissen, dass nur ein einziger weiterer Moment des Zögerns den Tod bedeuten konnte, stieß die Löwin sich ab und rannte los. Sie folgte jedoch nicht den anderen Löwinnen hinaus auf das Plateau, sondern wählte instinktiv einen anderen Weg.

»Wo willst du denn hin?«, hörte Nia ihre Freundin hinter sich im Laufen rufen. Ob der Fremde sie verfolgte, wagte sie nicht zu sagen.

»Der Löwe des Berges ist der einzige, der uns jetzt noch retten kann!«, sprach Nia, ohne langsamer zu werden.

»Vergiss diesen Schwachsinn, Nia! Auf dem Bergpfad können wir uns nirgendwo verstecken. Sie werden uns kriegen!«

Doch es war zu spät zum Umkehren, das musste Ardhi einsehen. Die Löwin hatte sich dicht an Nias Fersen geheftet, während die beiden gegen die Steigung ankämpften und die Schlafplätze so schnell wie möglich hinter sich ließen.

»Er kommt näher!«, rief Ardhi.

Ein flüchtiger Blick über die Schulter verriet Nia, dass ihre Tante recht hatte. Mit großen Sprüngen setzte der Fremde ihnen nach. Blutdurst spiegelte sich in seinen Augen wider. Er war nur noch wenige Schritte entfernt und Nia konnte deutlich hören, wie seine schweren Pfoten über den Boden trampelten. Die Angst vor dem, was geschehen würde, wenn der Fremde sie einholte, peitschte die Löwin weiter an. Tränen stiegen ihr in die Augen, während die Verzweiflung sie immer weiter trieb, über Gras, Sand und Fels hinweg. Ihre letzten Kraftreserven ausschöpfend, hielt Nia geradewegs auf den alten Bergpfad zu, der sich nun vor ihr auftat. Zwischenzeitlich war der Fremde ihnen so nahe, dass sie meinte, seinen Atem spüren zu können. Ardhi hatte inzwischen zu ihr aufgeschlossen und die beiden Löwinnen flohen ein Stück weit Seite an Seite, den geifernden Tod unmittelbar im Nacken, bis die Enge des Bergpfades Ardhi erneut zurück zwang. Bereitwillig überließ die gutmütige Löwin Nia die Führung. Doch dann geschah plötzlich etwas, womit keine der beiden gerechnet hatte.

Aus vollem Lauf schlug Ardhis linke Vorderpfote gegen einen aus der Erde hervorragenden Steinbrocken. Es war nur ein leichter Stoß, doch er genügte, um die Löwin aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zunächst geriet Ardhi ins Straucheln. Dann, als ihr Versuch, die Kontrolle zurückzuerlangen, misslang, stürzte sie vornüber auf den harten Untergrund und überschlug sich mehrmals, ehe sie zum Liegen kam.

Sofort stemmte sich Nia gegen ihre Laufrichtung und wirbelte dadurch weiteren Staub auf. Doch ihre Pfoten waren nicht wie die eines Geparden beschaffen. Nicht viel hätte gefehlt und der Schwung hätte auch sie von den Pfoten gerissen. Mit Mühe gelang es ihr, schlitternd zum Stillstand zu kommen. Im selben Augenblick hatte der Fremde Ardhi erreicht. Um ihr jede Möglichkeit zur Flucht zu nehmen, stellte er sich über sie, wobei er sie mit einer seiner Vorderpfoten zu Boden drückte. Noch benommen von ihrem Sturz war die Löwin nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen. Starr vor Schreck und unfähig zu handeln, sah Nia mit an, wie der Fremde Ardhi einen unerträglichen Moment lang betrachtete. Dann grub er seine Zähne mit einem Ruck tief in ihren Hals, wie ein Räuber, der seine Beute erlegte. Sein Griff um ihre Kehle war so fest, dass Ardhi nicht in der Lage war, einen Laut hervorzubringen.

Nia wollte ihrer Tante zu Hilfe eilen, doch sie war wie gelähmt. Als Ardhi unter Schmerzen aufsah, die Augen weit geöffnet, trafen sich ihre Blicke. Ardhi blieb stumm, doch ihre Augen sagten alles.

Lauf. Lauf um dein Leben.

Mit Entsetzen erkannte Nia, dass sie machtlos war. Doch erst als der Fremde von der toten Ardhi abließ und sich Nia zuwandte, das Maul rot gefärbt, erwachte sie aus ihrer Starre. Ohne ein weiteres Mal zurückzublicken, rannte Nia davon, dem Pfad folgend, der sie weg vom Plateau und hinauf in fremde Höhen führte. Sie konnte spüren, wie der Fremde hinter ihr her war, wie er bereits gierig die Zähne bleckte in freudiger Erwartung seines nächsten Opfers. Doch irgendwie gelang es Nia, ihm immer ein paar Schritte voraus zu bleiben, selbst als der Boden steil anstieg. Den ihr bekannten Teil des Weges hatte Nia schon lange hinter sich gelassen und doch schien der Pfad kein Ende zu nehmen. Mehrfach überkam die Löwin das Gefühl, ihre Beine würden nachgeben und sie würde an Ort und Stelle zusammenbrechen und sterben. Doch jedes Mal fing sie sich wieder und lief weiter, ganz als ob eine fremde Macht ihr Kraft verlieh.

Schließlich schien es, als ob der Pfad sich vor ihren Pfoten zerstreute. Das Hochland tat sich vor ihr auf.

Von nun an hastete die Löwin ohne Ziel voran, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen oder gar zu verstehen, was geschehen war. Die Tränen vernebelten ihren Blick, bis sie nur noch eine verschwommene Landschaft aus fahlen Grau-, Grün- und Brauntönen wahrnahm. Mit jedem Schritt, den sie zurücklegte, schwoll der Schmerz in ihrer Brust weiter an und das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Doch die Angst vor dem Fremden, der hinter ihr herjagte, war zu groß, um ihr auch nur einen Augenblick Atempause zu gönnen. Noch immer meinte sie seine Schritte deutlich zu vernehmen. Und sie kamen Atemzug um Atemzug näher.

Mit einem Mal senkte sich der Boden unter Nias Pfoten ab. Benommen wie sie war, hatte die Löwin die Senke zu spät kommen gesehen. Ihre Vorderpfoten traten ins Leere und die Löwin stürzte vornüber. Dabei stieß ihr Kopf äußerst unsanft gegen einen Felsen, was zu einem abrupten Stillstand führte. Für einen Moment hüllte der schwarze Schlund Nia ein.

Als sie die Augen wieder aufriss, war die Welt am Beben und Wanken, so wie sie es in ihrer Vision gesehen hatte. Keuchend und zitternd kroch Nia voran, bis die Beine ihr jeglichen Dienst verweigerten. Als sie unter pulsierenden Schmerzen den Kopf hob, konnte sie voraus einen Felsvorsprung ausmachen. Mit großem Glück würde der Fremde sie dort, im Schatten, vielleicht übersehen. Noch einmal nahm sie all ihre verbliebene Kraft zusammen und stemmte sich auf ihre zitternden Beine.

Halb stolpernd, halb wankend schleppte sie sich bis unter den rauen Stein, wo sie augenblicklich zusammenbrach. Erneut legte sich Schwärze über sie und flimmernde Punkte tanzten vor ihren Augen wie die Sterne am Nachthimmel. Die Löwin erbrach sich zu ihren Pfoten, ehe sie auf die Seite kippte und starr liegen blieb, während die Welt sich weiter und weiter drehte.

Irgendwo in der Ferne konnte sie eine grell leuchtende Scheibe ausmachen. Dann, plötzlich, wurde die Sonne von einem sich nähernden Schatten verdeckt.

Unter Anstrengung konnte Nia die Silhouette eines Löwen erkennen, seine Mähne wurde vom Wind aufgewirbelt, der über die nackten Felsen rauschte. Es bestand kein Zweifel, er hatte sie gefunden.

Nun würde der Löwe des Berges sie heimbringen.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt