Vorbereitungen

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Das Wunder trat sehr viel schneller ein, als Nia zu hoffen gewagt hatte. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie in einiger Entfernung auf dem Pfad vor ihr einen weißen Löwen auszumachen glaubte. Zunächst hielt sie seine Erscheinung noch für eine Täuschung, doch während die beiden Löwen sich Schritt für Schritt einander näherten, verflüchtigte sich zunehmend jeder Zweifel. Nias Herz begann vor Aufregung schneller zu schlagen. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie im schnellen Laufschritt auf Mavunde zueilte, ungeachtet des schmalen und teils unwegsamen Pfads und des tiefen Falls, der sie als Strafe für eine Unachtsamkeit erwarten würde. Als sie den Löwen schließlich erreichte, konnte sie nicht anders als ihm um den Hals zu fallen und ihre Schnauze in seinem dichten Fell zu vergraben.

»Du hattest recht«, flüsterte sie schuldbewusst und Tränen füllten ihre Augen. »Mit all dem, was du gesagt hast. Angavu ist einer von ihnen, er ist einer der Brüder.«

Mavunde antwortete nicht, stattdessen legte er eine seiner Pfoten tröstend auf Nias Schulter. Soweit Nia es einschätzen konnte, schien er nicht sonderlich überrascht angesichts der ausgesprochen schlechten Neuigkeit.

»Ich wollte es einfach nicht wahrhaben«, gestand Nia. »Ich war blind.«

»Deine Zweifel waren berechtigt«, entgegnete Mavunde beschwichtigend.

Obwohl sie ihn kaum kannte, spendete Mavundes Nähe der Löwin Trost. Sein Geruch und die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, hatten eine beruhigende Wirkung auf sie. Es verstrichen einige Augenblicke, ehe sie sich wieder von ihm löste und ihn voller Reue ansah.

»Ich brauche deine Hilfe«, gestand sie und ihre Stimme klang mit einem Mal dünn und kraftlos, ganz anders als in jenem Augenblick, in dem sie den Brüdern mutig gegenüber getreten war. »Dhalimu hat vor, Kimya und ihre Jungen zu töten. Er wird sie nur verschonen, wenn du ihm die Stirn bietest.«

Bei all den Gefühlen, die sich in ihr regten, fiel es Nia schwer, ruhig zu bleiben. Sie fühlte sich schwach und orientierungslos wie ein Gazellenkitz, das noch nicht gelernt hatte, sicher auf seinen vier Beinen zu stehen. Angavus Verrat hatte ihre gesamte Welt auf den Kopf gestellt.

Die Löwin ließ ihren Blick den Pfad hinauf schweifen. Nirgendwo war eine Spur von Mavundes Gefährten zu erkennen.

»Ajali und Jawabu... geht es ihnen gut?«, fragte die Löwin vorsichtig, nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.

»Es wird einige Zeit vergehen, ehe Ajalis Wunden verheilt sind«, erklärte Mavunde. »Bis dahin wird sie auf Hilfe angewiesen sein. Ich habe Jawabu aufgetragen, sich um sie zu kümmern. Mehr können wir momentan nicht für sie tun.«

Die Erkenntnis, die aus diesen Worten wuchs, traf Nia wie ein Schlag. »Dann bist du also ganz alleine«, hauchte sie erschrocken.

Mavunde nickte.

Nia spürte ihre Hoffnung schwinden. Mavunde wäre bereits gegen die beiden Brüder in der Unterzahl gewesen, doch nun, da sich Angavu auf die Seite der Widersacher geschlagen hatte, schien die Situation aussichtslos. Kein lebendes Wesen konnte gegen drei kampferprobte männliche Löwen ankommen, nicht einmal der weiße Löwe, so viel war gewiss. Für Nia bestand nur eine einzige Möglichkeit, die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Also traf sie eine schwerwiegende Entscheidung.

»Ich werde dir beistehen«, sprach sie und gab sich größte Mühe, ihre Worte nicht allzu kläglich klingen zu lassen. »Ich werde mit dir zusammen gegen die Brüder kämpfen.«

Mavunde schien nicht sonderlich begeistert von ihrem Angebot.

»Dir scheint nicht bewusst zu sein, worauf du dich einlässt, Nia«, antwortete er mit strenger Miene.»Von diesen Löwen darfst du kein Mitleid erwarten. Wenn du dich ihnen in den Weg stellst, werden sie dich nicht verschonen.«

»Deshalb werde ich mich ja auch zur Wehr setzen«, entgegnete Nia trotzig.

Mavunde zeigte ein mildes Lächeln. »Ich bewundere deinen Mut. Aber wenn dir dein Leben lieb ist, solltest du dich von dieser Auseinandersetzung so weit wie möglich fernhalten.«

»Ajali hast du auch gestattet, an deiner Seite in den Kampf zu ziehen!«, protestierte Nia. Kaum ausgesprochen erkannte sie jedoch wie armselig ihr Widerspruch wirken musste.

»Bitte, Mavunde«, begann die Löwin zu flehen. »Ich kann nicht zusehen, wie du dich ihnen alleine stellst. Lass mich dir helfen!«

»Du solltest dir Ajali nicht zum Vorbild nehmen«, sprach der weiße Löwe geruhsam. »Du hast erlebt, wohin ihr Stolz und ihre Rachsucht sie geführt haben.«

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Nia seine Worte zur Kenntnis genommen hatte, fuhr er fort: »Ich bin gekommen, um mich den Brüdern zu stellen und ihrem sinnlosen Morden ein Ende zu bereiten. Daran halte ich nach wie vor fest. Was dein Angebot angeht... ich erlaube dir, mit mir zu kommen, unter einer Bedingung: du tust, was ich dir sage. Und wenn ich dir sage, dass du fortlaufen und dich verstecken sollst, dann wirst du auch genau das tun. Hast du das verstanden?«

»Verstanden«, bestätigte Nia mit einem Nicken. Hoffnung regte sich in ihr. Vielleicht, wenn das Glück auf ihrer Seite stand, hatten sie gemeinsam eine Chance.

»Gut«, Mavunde ließ seinen Blick über das Plateau schweifen. »Hat Dhalimu dir ein Ultimatum gestellt?«

»Er hat mir Zeit bis zum Mittag gegeben. Bis dahin müssen wir ihm entgegengetreten sein.«

Der weiße Löwe wirkte nachdenklich.

»Dann werden wir das zu unserem Vorteil nutzen«, sprach er. »Die Sonne ist erst vor kurzem aufgegangen und verbreitet jetzt schon ungewöhnlich viel Wärme. Es wird ein heißer Tag werden. Wenn wir uns Dhalimu und seinen Brüdern stellen, sollten wir das zur heißesten Zeit des Tages tun. Dhalimu ist ein starker Kämpfer, aber seine Körpermasse macht ihn schwerfällig. Die Hitze wird ihm nicht gut bekommen.«

»Und was ist mit den anderen beiden?«, fragte Nia. Angavus Namen auszusprechen wagte sie nicht.

»Lass uns hoffen, dass sie einen schlechten Tag haben«, antwortete Mavunde. Sein Blick fiel erneut auf die sich allmählich erhebende Sonne. »Wir haben noch ein wenig Zeit, um unsere Kräfte zu sammeln.«

Die folgenden Stunden verbrachten die beiden Löwen an den Hängen des Vorgebirges. Hier fanden sie nach kurzer Suche eine kleine Wasserstelle, aus der sie tranken.

Mavundes Einschätzung erwies sich als richtig: der Tag drohte zu einem der wärmsten Tage der Regenzeit heranzuwachsen. Als die Sonne emporstieg und sich von ihrer kräftigsten Seite zeigte, zerriss sie auch die letzten Wolkenfetzen. Glücklicherweise boten die Hänge und Felsen mehr als genug Schattenplätze, in denen die Löwen Zuflucht suchen konnten. Die Zeit verging derweil beunruhigend schnell. Immerzu fürchtete Nia, dass sie zu spät auf dem Plateau erscheinen würden und dass Dhalimu sein blutiges Werk bereits verrichtet hatte. Gleichzeitig scheute sie sich vor dem Augenblick, in dem sie Angavu erneut gegenübertreten musste.

Unter Anstrengung versuchte sie, ihre Gedanken von Angavu und und seinen Taten zu lösen, doch ganz gleich wie sehr sie sich auch bemühte, sie kamen immer wieder zu ihr zurück. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, dass derselbe Löwe, der ihr das Leben gerettet und sie im Tal in seine Obhut genommen hatte, sich nun als Lügner und als ein Verbündeter jener Mörder herausgestellt hatte, die Ardhi getötet hatten. Angavu war sogar so weit gegangen, Dhalimu als seinen Bruder zu bezeichnen. Konnte das wirklich stimmen? Waren die beiden Brüder? Aber was hatte Angavu dann im Gebirge gesucht? Warum hatte er seine Brüder nicht bei der blutigen Übernahme des Rudels unterstützt? Warum hatte er Nia, die auf der Flucht vor den Brüdern gewesen war, unterstützt?

Zu viele Fragen für einen einzigen Vormittag. Tatsache war, dass all das, was sie über Angavu zu wissen glaubte, eine Lüge war. Sie wusste rein gar nichts über ihn, nur dass er von nun an ihr Feind war. Ein Feind, der nach ihrem Leben und den Leben ihrer Freunde trachtete. Aber Nia hatte geschworen, sich nicht ohne Widerstand geschlagen zu geben.

Die Mittagshitze rückte mit großen Schritten näher. Schließlich sah Mavunde es an der Zeit, den Weg hinab auf das Plateau anzutreten. Bereitwillig folgte Nia ihm, nicht wissend, ob sie diesen Ort, den sie so lange Zeit als ihr Zuhause angesehen hatte, jemals wieder lebendig verlassen würde.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt