Die drei fremden Löwen lauschten sorgsam Nias Worten, während sie ihnen alles berichtete, was sie wusste und von dem sie glaubte, dass es für die Fremden von Nutzen sein konnte. Von der Ankunft der Brüder und ihrer brutalen Vorgehensweise bei der Übernahme bis hin zu einigen Details über das Rudel. Mavunde war interessiert daran, wie viele Löwinnen vor dem Umbruch Teil des Rudels gewesen waren, wie ihre Namen lauteten und wie man sie würde erkennen können. Sogar nach ihrem Charakter fragte er. Nia vermutete, dass er abzuschätzen versuchte, wie die Löwinnen auf das Auftauchen dreier weiterer Fremder in ihrem Revier reagieren würden. Außerdem ließ er Nia das Plateau und die Schlafplätze beschreiben. Auch der alte Bergpfad interessierte ihn, da er möglicherweise eine gute Gelegenheit bot, sich der Heimat des Rudels weitestgehend unbemerkt zu nähern.
Während sie erzählte, warf Nia immer wieder Blicke über die Schulter auf Angavu. Zunächst hockte der Löwe in einigem Abstand zur Gruppe und lauschte ebenfalls Nias Worten. Vieles von dem, was sie den Fremden anvertraute, hatte sie Angavu gegenüber nie erwähnt. Selbst jetzt erfüllte sie die Schilderung von Ardhis Tod mit einer kalten, inneren Leere, der Hitze des noch jungen Tages zum Trotz. Mavunde schien dies zu bemerken und er unterbrach die Löwin, noch ehe sie den anderen Ardhis finsteres Schicksal offenbart hatte.
»Ich denke, wir haben genug gehört«, sprach der weiße Löwe und dankte Nia noch einmal für ihre Worte und ihre Bereitschaft zu helfen.
»Wir wissen nun, dass die Zeit mehr drängt als jemals zuvor«, verkündete er schließlich, für alle gut hörbar. »Daher plädiere ich dafür, noch heute aufzubrechen und den Weg in Richtung Plateau einzuschlagen.« Mit diesem Vorschlag wandte Mavunde sich an seine Begleiter. »Was sagt ihr?«
Es war Ajali, die ohne zu zögern antwortete.
»Genau wie Nia kann auch ich nicht herumsitzen, während diese Scheusale nur einen guten Tagesmarsch entfernt ihr abscheuliches Werk verrichten. Dabei spielt es keine Rolle, ob ihre Opfer meine Schwestern sind oder Löwinnen, denen ich niemals zuvor begegnet bin. Lasst uns gehen und für Gerechtigkeit sorgen.«
Die auffordernden Worte wurden von einem Pathos getragen, wie Nia ihn zuvor noch nicht erlebt hatte. Ganz offensichtlich hatte Jawabu ihnen nichts mehr hinzuzufügen.
»Gut«, sprach Mavunde. »Dann ist es entschieden. Wirst du uns auf das Plateau führen, Nia? Ich verspreche dir, dass wir nicht mehr von dir verlangen werden als das. Du hast bereits genug durchlitten, daran habe ich keine Zweifel.«
Erneut sah Nia sich nach ihrem Freund um, doch dieses Mal konnte sie Angavu nirgendwo zwischen den Bäumen ausfindig machen. Er war gegangen.
»Ich helfe euch, so gut ich kann«, sprach Nia, weiterhin nach dem Löwen Ausschau haltend. »Bitte gebt mir nur kurz Zeit, mich zu verabschieden.«
Mavunde nickte verständnisvoll. »Wir werden hier auf dich warten.«
Wie sich herausstellte, war Angavu noch immer näher als Nia vermutet hatte. Sie fand ihn am Rand des Sees, wo er einige Vögel beobachtete, die zwischen den Binsengewächsen am Ufer auf und ab schwammen. Seine gespitzten Ohren verrieten ihr, dass er sie bemerkt hatte, obwohl er keine Anstalten machte, sich ihr zuzuwenden. So einsam und allein wie er dort hockte, hatte Nia Mitleid mit ihm. Sie wusste nicht, wie lange er schon auf sich allein gestellt durch diese Lande streifte, doch vermutlich hatte er seit den Tagen seiner Kindheit niemanden mehr um sich gehabt, dem er vertraut hätte. Er würde es ganz sicher nicht zugeben wollen, doch Nia spürte, dass es ihm nicht leicht fiel, sie gehen zu lassen.
»Was ich gesagt habe, tut mir Leid«, entschuldigte sie sich mit sanfter Stimme, während sie an Angavu herantrat. »Du sorgst dich um mich und dafür bin ich dir dankbar. Aber wenn es eine Möglichkeit gibt, meinen Schwestern zu helfen, dann bin ich bereit, vieles dafür zu riskieren. Ich habe die Wut und Brutalität dieser Brüder erlebt und ich glaube nicht, dass das Rudel ein schlimmeres Los hätte treffen können.«
Sie war nun nah genug, um dem Löwen mit ihrer Schnauze behutsam über Flanke und Hals zu streicheln und sich an ihn zu schmiegen, wie sie es inzwischen viele Male getan hatte. Er ließ sie gewähren, auch wenn sein Körper starr wie Stein blieb.
»Es ist schon gut«, sprach er, während sie ihn weiter aufzumuntern versuchte. »Du hast vollkommen recht. Am Ende solltest du immer das tun, was du selbst für richtig hältst. Ich habe nur das Gefühl, dass du deine Entscheidung überstürzt getroffen hast.«
»Es fühlt sich richtig an, ihnen zu helfen«, erwiderte Nia. »Und je länger ich zögere, desto weiter sinken die Chancen, dass ich Nadhari, Samaha und die anderen lebendig wiedersehe.«
Wenn er sie auch nicht verstehen konnte, so schien Angavu ihre Worte zumindest zu akzeptieren. Als sie seinen Blick suchte, wandte er sich ab und blickte auf die vom milden Wind gekräuselte Wasseroberfläche.
»Sobald das Rudel befreit ist, komme ich zu dir zurück«, versprach Nia. Doch sie spürte selbst, dass es naiv klang. Wer wusste schon, was geschehen würde, sobald sie das Plateau betrat? Vielleicht würde sie überhaupt keine Gelegenheit erhalten, noch einmal zurückzukehren. Es war nicht auszuschließen, dass die Auseinandersetzung mit den Brüdern sie ihr Leben kosten würde.
»Zu mir zurück?«, wiederholte Angavu beinahe belustigt und sah Nia in die Augen. »Dachtest du wirklich, ich lasse dich alleine mit diesen Fremden losziehen?« Sein Blick wurde wieder ernster »Ich sagte doch, dass ich ihnen nicht vertraue. Deswegen werde ich auf dich aufpassen, bis die Sache erledigt ist, ob es dir nun passt oder nicht.«
Nia spürte, wie ihr ein riesiger Fels vom Herzen fiel.
»Das heißt, du kommst mit uns?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Als Angavu nickte, war Nia außer sich vor Freude. Sie wusste nicht, wie sie ihm danken sollte, also sprang sie ihn förmlich an und warf ihre Pfoten um seinen Hals.
»Danke«, sagte sie von ganzem Herzen. »Danke!«
Angavu lächelte nur und schwieg.
Gegen Nachmittag setzte sich die kleine Gruppe aus Löwen in Bewegung. Allen voran Nia, die den Wald bereits gut genug kannte, um einen geeigneten Weg zu finden, der sie aus dem Tal hinaus führen würde. Mavunde hatte keine Einwände geäußert, als Angavu sich der Gruppe angeschlossen hatte. Lediglich seine Augen hatten für einen Moment etwas erahnen lassen, das zumindest entfernt an Misstrauen erinnerte.
Angavu seinerseits sorgte dafür, dass zwischen ihm und den Fremden stets ein gewisser Abstand gewahrt blieb. Die meiste Zeit über bewegte er sich seitlich zur Gruppe, um sowohl Nia als auch die Fremden im Auge behalten zu können. An einigen Stellen gab er sogar den Ton an, was die einzuschlagende Richtung anging, insbesondere als die Löwen begannen, sich an den Aufstieg hinauf in das Vorgebirge zu machen. Abgesehen davon sprach er jedoch kein Wort, auch nicht zu Nia.
War der Abstieg vor einigen Tagen bereits mühsam gewesen, so stellte sich der Aufstieg als eine wahre Tortur dar. Obwohl sie viel Zeit damit verbrachten, nach einem geeigneten Pfad zu suchen, schien sich das Klettern einfach nicht vermeiden zu lassen. Unweit der Stelle, an der sie vor kurzem in das Tal hinabgestiegen waren, fanden Nia und Angavu einen nur unwesentlich flacheren Hang, der zudem mit teils schulterhohem Dornengestrüpp überwuchert war. Die Überwucherung hatte jedoch auch ihren Vorteil, hielt sie doch den Boden stabil und minderte somit deutlich die Gefahr des Abrutschens.
»Ich hoffe, ihr hängt nicht zu sehr an eurem Fell«, verkündete Angavu bissig. »Denn das hier ist unser Weg.«
Während des Aufstiegs überließ Nia Angavu die Führung und folgte ihm wortlos. Wie angekündigt sorgten Dornen und Kletten dafür, dass die Löwin den ein oder anderen Fellbüschel auf dem Hang zurückließ und sich mehr und mehr hässliche Kratzspuren über ihre Haut zogen. Sie war heilfroh, als der Pfad abflachte und die Vegetation wieder zunehmender aus Gras bestand. Nun erkannte sie auch den Weg, den sie und Angavu vor einigen Tagen genommen hatten und war guter Dinge, dass die Gruppe bis zum kommenden Morgen das Plateau erreichen würde. Was dann geschehen würde, wusste sie nicht, doch sie war sich sicher, dass Mavunde bereits einen Plan hatte.
DU LIEST GERADE
Savanne in der Abendkühle
FantasíaDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...