Die Tage nach der Übernahme der Fremden bedeuteten für Samaha immer wieder denselben Ablauf. Sie und ihre beiden Jagdgefährtinnen begaben sich früh, noch vor Sonnenaufgang, auf das Plateau, um zu jagen. Wenn sie Erfolg hatten, führten sie die Beute den beiden Rudelführern vor und diese entschieden, ob sie mit dem Fang zufrieden waren. Wenn ihnen kein Erfolg gegönnt war oder die Beute den Löwen nicht ausreichte, so nahmen die Jägerinnen sich eine Ruhepause über die Mittagszeit hinweg und begaben sich anschließend erneut auf die Pirsch. Letzteres geschah immer häufiger. Die Euphorie, die durch die strahlenden Erfolge ihrer neuen Jagdtechnik aufgekommen war, war ebenso schnell wieder verflogen. Mittlerweile war Samaha überzeugt, dass es in erster Linie der Überlebenswille sowie eine gehörige Portion Glück gewesen war, die ihnen die anfänglichen Erfolge beschert hatten. Nun, da die Leben der Rudelmitglieder nicht mehr unmittelbar auf dem Spiel standen, waren offenbar auch ihre Bemühungen wieder zurückgegangen. Anders konnte sich die Löwin ihre momentane Situation nicht erklären.
Doch noch waren sie weit davon entfernt, Hunger zu leiden. Die Jagden mochten sich als mühsam und zeitaufwändig erweisen, doch früher oder später zahlte sich ihre Geduld in der Regel aus. Und Samaha sorgte stets dafür, dass keine Löwin des Rudels zu kurz kam. Wann immer sie Gelegenheit fand, versorgte sie Kimya und Shahidi hinter dem Rücken der Fremden mit Beute. Imani und Nadhari wussten sich selbst zu helfen.
Insgesamt hätte ihre Situation schlimmer aussehen können. Die beiden Brüder waren zwar nach wie vor dominant und gefährlich, aber sie hatten sich mit dem Verstreichen der Tage auch zunehmend von den Löwinnen distanziert. Mittlerweile überprüften sie die Fänge nur noch halbherzig und sprachen sonst kaum ein Wort mit Samaha und den anderen. Hin und wieder war einer der beiden für längere Zeit unterwegs, während der jeweils andere an seinem inzwischen traditionellen Platz auf dem Felsen lag und Ausschau hielt. Offenbar waren die beiden stets darauf bedacht, mögliche Eindringlinge möglichst früh zu bemerken, um ihnen die Stirn bieten zu können. Das hätte zumindest ihr wachsames Verhalten erklärt. Aber soweit Samaha es in Erfahrung bringen konnte, hatte sich seit der Ankunft der Brüder kein Fremder dem Plateau genähert.
Es war bereits der achte Tag nach der Ermordung ihrer beiden Freundinnen und dem Verschwinden der anderen. Der Verlust schmerzte die Löwinnen immer noch sehr, doch allmählich hatten sie begonnen, ihr neues Leben zu akzeptieren. Samaha war am späten Abend in ein mühseliges Gespräch mit der alten Shahidi verwickelt. Während die anderen tagtäglich auf dem Plateau unterwegs waren, verbrachte Shahidi viel Zeit damit, Kimya bei der Aufzucht ihrer Jungen beizustehen. Auch wenn auf die Alte nicht immer Verlass war, in dieser Beziehung war sie doch nach wie vor eine große Hilfe. Sie war die einzige, der Kimya die Aufsicht länger als bloß ein paar Augenblicke anvertraute und bislang hatte sich das Vertrauen nie als ungerechtfertigt erwiesen.
Das war es jedoch nicht, worüber Samaha mit der Alten hatte sprechen wollen. Ihr lag etwas anderes am Herzen. Kimyas Verhalten bereitete der Löwin schon seit Tagen Sorgen, seit ihrem wütenden Ausfall am ersten Tag nach der Übernahme, als Samaha ihr einen Teil ihrer Beute hatte bringen wollen. Die junge Mutter hatte sich an diesem Tag schnell wieder beruhigt und war daraufhin eingeschlafen, doch das Temperament, das sie gezeigt hatte, hatte ihr überhaupt nicht ähnlich gesehen. Je mehr Samaha sie daraufhin beobachtet hatte, desto sicherer war sie sich geworden, dass mit Kimya etwas nicht stimmte. Sie schien sehr viel mehr unter dem Wandel, den das Rudel durchmachte, zu leiden als alle anderen Beteiligten. In den letzten Tagen war sie oft sehr leicht reizbar gewesen oder spürbar nervös geworden, wenn man sie angesprochen hatte.
Da Samaha dieses Verhalten ganz und gar nicht gefiel, hatte sie Shahidi heimlich damit beauftragt, Kimya genau zu beobachten und an jedem Abend Bericht zu erstatten. Auf diese Weise konnte Samaha die junge Löwin im Auge behalten, ohne selbst anwesend sein zu müssen. Shahidi war zwar nicht die beste Beobachterin, doch zwischen den zahllosen Aussagen über völlig unbedeutende Belanglosigkeiten und den Dingen, die Shahidi selbst zwar als sehr wichtig erschienen, die sie jedoch bis zum Abend längst vergessen zu haben schien, war hin und wieder ein Detail dabei, das Samaha aufhorchen ließ. So auch an diesem Abend.
»Und dann hat sie gesprochen«, flüsterte Shahidi mit verschwörerischem Unterton. Sie und Samaha standen abseits der Schlafplätze im Schatten der Bäume, wo sie hofften, unbemerkt zu bleiben. Die Sonne war bereits hinter der Hügelkette verschwunden und lediglich ein letztes Leuchten zeugte noch von der starken Präsenz, die sie den gesamten Tag über ausgestrahlt hatte.
»Gesprochen«, wiederholte Samaha die Worte der Alten. »Sagtest du nicht, sie habe geschlafen, während du nach den Jungen gesehen hast?«
Shahidi nickte mit einer für ihr Alter ungewöhnlichen Eindringlichkeit. »Ja, das hat sie auch. Sie hat geschlafen. Und im Schlaf hat sie gesprochen.«
»Interessant.« Rasch warf Samaha einen Blick hinüber zu den Felsen, zwischen denen sie die beiden Brüder vermutete. Sie wollte kein Risiko eingehen, besonders nicht jetzt, da Shahidi endlich auf den Punkt zu kommen schien, nachdem sie ihrer Freundin zuvor elendig lange ihren gesamten Tagesablauf vorgekaut hatte.
»Sie hat also im Schlaf gesprochen«, sprach Samaha langsam und deutlich genug, um der Ältesten die Chance zu geben, sie zu unterbrechen, sofern sie etwas falsch verstanden hatte.
»Ja«, bestätigte Shahidi knapp.
»Und?«, hakte Samaha nach.
Die Alte schien verwirrt. »Und was?«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Nun... das weiß ich nicht mehr so genau. Aber ich erinnere mich, dass es mich sehr beunruhigt hat. Es klang beinahe wie ein Hilferuf.«
»Sie muss geträumt haben«, vermutete Samaha und versuchte die Erkenntnis in Einklang mit dem zu bringen, was sie bereits über Kimyas ungewöhnliches Benehmen wusste.
»Warum hätte sie denn träumen sollen?«, fragte die Älteste verwirrt. »Dazu hätte sie doch erst einmal schlafen müssen.«
»Ich dachte, du wärst dir sicher, dass sie geschlafen hat?« Samaha gab sich alle Mühe, ihre bereits recht aufgebrachte Stimme zu dämpfen.
»Das bin ich ja auch«, erklärte Shahidi, verblüfft über Samahas plötzlichen Gemütswechsel.
»Wieso fragst du dann warum sie - ach, vergiss es. Ich denke, ich habe genug gehört für heute. Wir sehen uns morgen Abend wieder. Versuch dir so viel wie möglich zu merken.«
»Das werde ich tun«, verkündete Shahidi, nicht ohne Stolz. »Weißt du, ich habe ein hervorragendes Gedächtnis. Na ja, zumindest hatte ich das früher. Glaube ich.«
Nachdem Shahidi ihre Ausführungen beendet hatte, entließ Samaha sie, damit sie zurück zu den Schlafplätzen kehren konnte. Sie selbst wartete eine ganze Weile, ehe sie sich auf den Weg machte. Bei einer einzelnen Löwin, die nachts durch die Gegend streifte, würden sich die Brüder nicht viel denken, so hoffte Samaha. Bei zwei Löwinnen sah das schon anders aus.
Gerade wollte Samaha den Schutz der Bäume verlassen und sich in Richtung der Felsansammlung begeben, da hielt sie inne. Über die Stille der Nacht hinweg hatten ihre wachsamen Ohren etwas aufgeschnappt. Einen Laut, der nicht harmonieren wollte mit dem leisen Rascheln der Blätter oder dem fernen Geschrei eines Affen oder Vogels, das man hier des Öfteren vernahm. Nein, was sie hörte, war etwas anderes. Es waren Stimmen. Stimmen, die der schwache Wind mit sich trug.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...