Hinab in die Höhle des Löwen - Teil 1

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Nia starrte in die Finsternis der Höhle. Das bedrückende Gefühl, das sie bei diesem Anblick empfand, ließ sich nur schwer in Worte fassen. Es war, als ob die gähnende Leere sie hinab in die Tiefe unter dem Fels zog, um sie für immer einzuschließen. All ihre Worte wurden nahezu spurlos verschluckt, lediglich ein fernes, unwirkliches Echo war zu vernehmen. Zu ihrem Glück wusste Nia, was ein Echo war, ansonsten hätte das hallende Geräusch ihr die Nackenhaare zu Berge stehen lassen.

Sie hatte nach Angavu gerufen, doch der Löwe war weder erschienen, noch hatte er geantwortet. Nach einer Weile des stillen Verharrens hatte sie es ein weiteres Mal versucht, wieder ohne Erfolg. Dann ein drittes und viertes Mal. Aber Angavu war weder zu sehen noch zu hören. Nur immer wieder das leise Echo. Wie groß mochte die Höhle wohl sein? Konnte er sie überhaupt hören?

Obwohl Nia aus Gründen, die ihr selbst nicht ganz klar waren, die Finsternis der Höhle sehr viel mehr fürchtete als die Dunkelheit der vergangenen Nacht und ihr der bloße Anblick die Nackenhaare zu Berge stehen ließ, entschied sie sich dafür, dass es nur vernünftig war, nach Angavu zu suchen. Auch wenn sie ihm in mancher Hinsicht misstraute, konnte sie doch nicht leugnen, dass er ihr bislang eine große Hilfe gewesen war. Immerhin hatte er sie mit Nahrung versorgt und ihr eine sichere Unterkunft für die Nacht gezeigt. Und er schien sich im Vorgebirge tatsächlich gut auszukennen, sehr viel besser als Nia selbst jedenfalls. Vielleicht kannte er einen Weg, der sie ohne größere Hindernisse zurück auf das Plateau bringen würde. Doch Nia hatte ihn seit gestern Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen, seitdem die finstere Höhle ihn verschluckt hatte.

Ein letztes Mal sah Nia sich um. Als sie auch diesmal niemanden erblickte, trat sie vorsichtig in den Gang, der steil hinab unter die Erde führte. Beim Abstieg hatten ihre Vorderpfoten einen guten Teil ihres Gewichts zu stemmen. Stück für Stück arbeitete die Löwin sich voran, die Ohren aufgestellt und aufmerksam lauschend. Nach etwa zwanzig Schritten wurde der Weg flacher und breiter, was den Abstieg erleichterte. Als Nias Augen sich zunehmend an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass es sich nun nicht mehr um einen einzelnen Gang handelte, sondern um eine breite Aushöhlung. An einigen Stellen waren Boden und Decke nur wenige Pfotenlängen voneinander entfernt, an anderen wiederum hätte durchaus ein Nashorn aufrecht stehen können. Die Höhle wirkte verwinkelt, aber weitaus kleiner als Nia sie sich vorgestellt hatte. Viele Bereiche waren für ein Tier von der Größe eines Löwen unerreichbar.

Als Nia sich zaghaft noch ein paar Schritte weiter voran tastete, zog plötzlich etwas auf dem Boden der Höhle liegendes ihren Blick auf sich. Als sie erkannte, was sie dort vor sich hatte, hielt sie den Atem an.

Unmittelbar vor ihr lagen die Überreste eines Tieres, das ziemlich genau Nias Größe entsprochen haben musste. Aus leeren Augenhöhlen starrte der knöcherne Schädel sie an, das Gerippe lag dahinter auf dem Felsboden verteilt, stellenweise mit getrockneten Haut- und Fellfetzen überzogen. An der Beschaffenheit des Schädels konnte Nia erkennen, dass es sich keineswegs um ein Beutetier handelte. Der Kiefer war mit langen, messerscharfen Zähnen bestückt, die Nia ein diabolisches Grinsen entgegenwarfen. Es bestand kein Zweifel, sie hatte die Überreste eines Raubtiers vor sich, möglicherweise eines junge Löwen. Ob männlich oder weiblich ließ sich nicht erkennen, aber in diesem Moment des Grauens fiel es Nia nicht schwer, sich selbst in den Knochen wiederzuerkennen.

Erst jetzt fielen Nia die zahlreichen weiteren verstreuten Gerippe auf, die quer über die Höhle verteilt lagen. Einige von ihnen waren jedoch kaum noch als Überreste eines Tieres zu erkennen. Nias Herz raste. Sie konnte den Blick nicht abwenden, selbst wenn sie es gewollt hätte. An was für einen Ort war sie hier geraten? Wer hatte all diese Seelen auf dem Gewissen?

»Machen sie dir Angst?«

Nia erschrak. Sie hatte Angavu nicht nähertreten gehört, so sehr hatte die schaurige Szenerie sie in ihren Bann gezogen. Offenbar war er ihr den Gang hinab gefolgt. Sie starrte ihn entsetzt an, nicht fähig, ihr Grauen in Worte zu fassen. Er schmunzelte nur.

»Du brauchst dich nicht vor ihnen zu fürchten«, sprach er. »Sie werden niemandem etwas antun.«

Nia sah ihn entsetzt an.

»Hast du sie getötet?«

Ihre Stimme war dünn, ihre Zunge und ihr Hals fühlten sich mit einem Mal trocken an. War sie unwissend in die Falle eines Mörders getappt?

»Nein.« Er schüttelte den Kopf, so dass seine zottelige Mähne hin und her flog. »Sie waren schon hier, als ich diesen Ort entdeckt habe. Nicht auszuschließen, dass sich einige von ihnen zum Sterben hierher zurückgezogen haben. War ihnen vielleicht lieber, als draußen von Geiern und Hyänen zerpflückt zu werden. Hier sind sie bloß Futter für die Maden.«

Angavu bedachte die Knochen mit einem nichtssagenden Blick. Es fiel Nia schwer abzuwägen, ob er die Wahrheit sagte. Abwechselnd sah sie ihn und die Gerippe ab. Sie wollte nur noch raus aus diesem unheilvollen Schlund von einer Höhle.

»Komm mit«, sprach Angavu. »Du wolltest doch zurück zu deinem Rudel, oder nicht?«

Ohne Widerrede zu dulden, wandte er sich ab und wählte den Gang, der zurück zur Oberfläche führte. Nia folgte ihm schweigend, ohne sich ein weiteres Mal umzusehen. Vielleicht war es tatsächlich klug, nicht zu viel über die Höhle und ihre toten Bewohner zu wissen.

Als sie ins Freie trat, ließ das bedrückende Gefühl, das die Dunkelheit unter der Erde in ihr ausgelöst hatte, bereits nach. Sie war froh, sich wieder unter freiem Himmel zu befinden. Nachdem sich ihre Augen an das helle Sonnenlicht gewöhnt hatten, wandte sie sich an Angavu.

»Kennst du einen Pfad in der Nähe, der hinab auf das Plateau führt?«

Der Löwe nickte. »Ich kenne sogar mehrere. Wenn du möchtest, bringe ich dich zu deinem Rudel. Ich glaube zwar nicht, dass die Hyänen sich bei Tag umhertreiben, aber du bist auf jeden Fall sicherer, wenn ich dich begleite.«

Da Nia es nicht wagte, das Angebot abzulehnen, stimmte sie Angavu zu. Dann fiel ihr plötzlich etwas auf.

»Warst du schon einmal auf dem Plateau?«, fragte sie, während sie bereits die ersten Schritte zurücklegten und die Höhle hinter sich ließen.

»Schon einige Male«, antwortete er. »Man hat nicht immer das Glück, hier oben eine streunende Gazelle vorgesetzt zu bekommen. Hin und wieder ist ein einsamer Löwe gezwungen, seinen Jagdbereich auszuweiten.«

»Hast du in letzter Zeit bei einem deiner Ausflüge eine Kuhantilope erlegt und sie anschließend in einem Dornengebüsch versteckt?«

Schlagartig blieb Angavu stehen und sah Nia an, als ob sie ein fremdes Wesen aus einem anderen Land wäre.

»Was? Wie kommst du darauf, dass... Woher weißt du das?«

Zum ersten Mal seitdem die Fremden ihr Rudel überfallen und ihre Freundin getötet hatten, gelang es Nia zu lächeln. Es war ein scheues Lächeln, aber es kam von Herzen. Zumindest hatte sie nun eines ihrer Rätsel gelöst.

»Ich habe die Überreste gefunden. Und gestern, als du mich von den Hyänen weggeführt hast, da sagtest du, du würdest nie gerne einen Teil deiner Beute ungenutzt zurücklassen. Du hast sie im Gestrüpp versteckt, um sie vor Aasfressern zu schützen, bis du zurückkommen würdest, um den Rest zu verzehren.«

Wenn Angavu beeindruckt war, so ließ er es sich nicht anmerken. Doch es schien ihm zu gefallen, dass Nia ihm auf die Schliche gekommen war, jedenfalls erwiderte er ihr Lächeln. Lediglich seine Augen spiegelten unergründlicherweise etwas wider, das für Nia wie Besorgnis wirkte.

Savanne in der AbendkühleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt