Aus dem Augenwinkel fiel Samaha ein Schatten auf, der sich den geschwungenen Pfad herabbewegte. Offenbar hatte Nia ihr kleines Tête-à-Tête mit ihrer Mutter beendet. Als sie näher kam, erkannte Samaha ganz deutlich ihre Züge. Mit einer überbetonten Geste machte sie Shahidi auf den Neuankömmling aufmerksam, dann erhoben sich die beiden Löwinnen und traten aus dem hohen Gras hervor.
Nia wirkte überrascht sie zu sehen, was nicht verwunderlich war. Außerdem lag in ihrem Blick etwas, das stark an Scham erinnerte. Als wäre sie der Meinung, etwas Verbotenes getan zu haben. Immerhin schien sie keinerlei Anstalten zu machen, die Flucht zu ergreifen. Eine Reaktion, die Samaha ihr durchaus zugetraut hätte.
»Verzeih uns, dass wir dir hier aufgelauert haben«, sprach Samaha, so sanft es ihr irgend möglich war, denn Sanftmut war nicht gerade eine ihrer Stärken. »Hast du etwas dagegen, wenn wir uns ein wenig unterhalten? Es heißt ja, die Nacht kenne viele Wahrheiten.«
Nia nickte verständnisvoll, dabei gelang es ihr jedoch nicht sonderlich gut, ihre Anspannung zu verbergen.
»In Ordnung«, fuhr Samaha fort, der das Nicken als Antwort genügte. »Shahidi möchte dir etwas sagen, das dir möglicherweise weiterhelfen wird. Sie hat früher vielen jungen Löwinnen das Jagen beigebracht und weiß selbst einiges darüber - auch wenn sie ein wenig aus der Übung sein mag.«
Samaha wandte sich an Shahidi, die sich neben ihr niedergelassen hatte, da ihr das Stehen auf Dauer Schmerzen bereitete.
»Erzähl Nia doch bitte deine kleine Geschichte.«
Die alte Löwin wirkte verwirrt. »Was für eine Geschichte?«
»Die Geschichte, die du Nia erzählen solltest. Wegen der ich dich gebeten habe, mit mir zu kommen.«
Nachdenklich starrte die Rudelälteste in den Nachthimmel. Dann, plötzlich, schien sie sich zu entsinnen.
»Ja, richtig. Die Geschichte.« Sie räusperte sich.
»Nun... also... ich denke, es war vor ein paar Regenzeiten. Möglicherweise waren es auch ein paar Regenzeiten mehr als ich denke. Jedenfalls war da... etwas...«
Die Älteste stockte. Offenbar hatte sie bereits den Faden verloren.
»Ich bin mir sicher, dass es irgendetwas mit einem Löwen zu tun hatte.«
Samaha stieß ein resigniertes Seufzen aus. »Du hast keine Ahnung, von was für einer Geschichte ich rede, nicht wahr?«
»Um ehrlich zu sein... nein.« Shahidi lachte ein wenig beschämt.
»Es tut mir Leid, was heute geschehen ist«, sprach Nia offen heraus und unterbrach damit die beiden Löwinnen. »Es soll nicht wieder vorkommen. Ich werde mich in Zukunft mehr bemühen.«
»Das hoffe ich.« Nias plötzliche Reaktion hatte Samaha überrumpelt.
»Kann es sein, dass dir irgendetwas zu schaffen macht?«, fragte Shahidi vorsichtig. »Möchtest du darüber reden?«
Nia schwieg und starrte in die schwarze Leere der Nacht. Für Samaha sah es beinahe so aus, als würde die junge Löwin einen inneren Kampf austragen. Worum es dabei ging, konnte sie jedoch nur erahnen.
»Es ist nichts«, sprach Nia, ohne den anderen in die Augen zu sehen. »Ich bin nur ein wenig durcheinander von meinem Sturz, das ist alles. Es wird vorübergehen.«
Samaha warf einen Blick hinüber zu Shahidi. Wenn die Alte skeptisch war angesichts des Wahrheitsgehalts von Nias Worten, so ließ sie es sich nicht anmerken.
»Nun gut«, sprach Samaha, als klar war, dass Nia ihrer Aussage nichts mehr hinzuzufügen hatte. »Ich habe jedenfalls mit Ardhi gesprochen und wir sind uns einig, dass es das Beste ist, wenn du dir ein paar Tage Abstand von der Jagd gönnst. Sie hat vorgeschlagen, dass du Kimya bei der Beaufsichtigung ihrer Jungen unterstützt. Ist das in deinem Sinne?«
»Ich danke euch dafür«, entgegnete Nia knapp. Ganz offensichtlich schien es sie nicht sonderlich zu interessieren, was Ardhi und Samaha ausgemacht hatten. Ihre Worte klangen hohl und leer und ihre Augen schienen die anderen Löwinnen nicht zu erkennen. »Wenn es in Ordnung ist, würde ich mich gerne zurückziehen.«
»Geh nur und ruh' dich aus. Deinen Platz in diesem Rudel wirst du schon noch finden«, sprach die alte Shahidi und lächelte freund-lich und von Herzen.
Nia bedankte sich ein weiteres Mal, ehe sie sich in Richtung der Schlafplätze entfernte und eine ratlose und skeptische Samaha zurückließ.
»Was machen wir nur mit ihr? Sie hört uns ja nicht einmal richtig zu.«
»Vielleicht braucht sie einfach noch Zeit«, wiederholte Shahidi.
»Glaubst du, es ist tatsächlich der Sturz, der sie durcheinander gebracht hat?«
Noch immer sah Shahidi Nias Gestalt im Dunkeln hinterher, obwohl ihre vom Alter getrübten Augen sie schon längst verloren haben mussten.
»Nein, das glaube ich nicht«, sprach sie. »Ich glaube, es ist etwas anderes. Aber was auch immer es sein mag, es scheint sie wirklich sehr zu beschäftigen.«
Nicht weit voraus konnte Nia die Schlafplätze ausmachen, dort wo die meisten Löwen des Rudels um diese Zeit üblicherweise zwischen Steinen und Felsen im Gras lagen und schliefen, sofern keine nächtliche Jagd anstand. Sie hatte den Weg unzählige Male zurückgelegt und hätte ihn selbst in völliger Finsternis gefunden.
Während ihre Pfoten sie zügig vorantrugen, verfluchte sich die junge Löwin innerlich. Sie hatte soeben ihre beste Möglichkeit, das Rudel vor der drohenden Gefahr zu warnen, verspielt. Hätte Samaha ihr Glauben geschenkt, dann hätten es die anderen Löwinnen womöglich auch getan. Aber was hätte sie schon sagen sollen? Alles, was sie vorzuweisen hatte, waren finstere Vorahnungen und böse Omen. Sie musste unbedingt zunächst mehr in Erfahrung bringen, ansonsten würden sie alle für verrückt erklären, selbst Ardhi.
Vielleicht stimmte es ja. Womöglich war sie wirklich verrückt geworden. Merkte ein Verrückter denn, dass er verrückt war? Wenn es wirklich so war, was konnte sie dann noch tun? Würde sie selbst womöglich zu einer Gefahr für das Rudel werden?
»Du musst dich unter Kontrolle halten, Nia«, schärfte sie sich ein. »Du darfst die Zeichen nicht falsch deuten. Was weißt du denn schon? Ist es nicht denkbar, dass du dir alles bloß eingebildet hast? Kann ein heftiger Schlag gegen den Kopf als Folge eines Sturzes nicht auch dazu führen, dass man Dinge sieht und hört, die nicht da sind? Nichts von dem, was du spürst und fühlst ist gewiss, nicht einmal die Luft, die du atmest oder die Erde unter deinen Pfoten.«
Nia beschleunigte ihre Schritte. Ihr Ziel war nun ganz nah. Sie spürte nicht, dass die Augen des Löwen, der nur unweit von ihr auf einem Felsen lag, sie sehr genau beobachteten und jede einzelne ihrer Bewegungen verfolgten, vom Kopf bis zur Schwanzspitze. Gier loderte auf, ein flammender Instinkt jüngerer Tage, ein Verlangen nach dem, was dem Löwen bisher verwehrt geblieben war.
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Savanne in der Abendkühle
FantasyDies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Mitleid und der H...